In den vergangenen zwei Wochen hat Russland die Ukraine mit den heftigsten Angriffswellen seit Kriegsbeginn im Februar 2022 überzogen. In den Städten Dnipro, Charkiw, Saporischschja, Odessa, Lwiw (Lemberg) und Kiew starben mehr als 30 Personen.

„Russland hat die Taktik gewechselt“, erklärte der Militärstratege Gustav Gressel aus der Denkfabrik „European Council of Foreign Relation“ in Berlin am Donnerstagabend in der „ZiB2“. „Im letzten Winter kam circa alle sieben bis acht Tage eine kleinere Angriffswelle mit 40 bis maximal 60 Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Jetzt hatten wir zwei massive Angriffe mit einmal 100 und einmal circa 135 Raketen.“

Russland würde rund 100 dieser Fernangriffswaffen pro Monat produzieren und sie nun geballt Richtung Ukraine schicken, damit die ukrainische Fliegerabwehr weniger davon eliminieren kann.

Zivilbevölkerung soll zermürbt werden

Während die Ziele im Laufe des Krieges relativ klar waren - zunächst die ukrainische Verteidigungsindustrie, danach die Energieinfrastruktur und zuletzt die Infrastruktur des Getreideexports - gestalteten sich die Angriffe rund um den Jahreswechsel deutlich diffuser. „Man kann davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil der Angriffe der Ermattung der Fliegerabwehr galt“, sagte Gressel. Eine durchdachte Strategie, wie Russland der Ukraine mit den letzten Zielen militärisch oder wirtschaftlich schaden hätte wollen, wäre nicht erkennbar gewesen. Ein Grund für die scheinbar willkürlichen Ziele könnte mit Problemen der russischen Aufklärung am Boden zusammenhängen. Sie könnten schlicht und ergreifend Schwierigkeiten haben, militärische Ziele zu finden, meint Gressel.

Stichwort Ermattung: Bombenkampagnen, um die Zivilbevölkerung mürbe zu machen, hätte es laut Gressel auch in vergangenen Kriegen schon gegeben. Funktioniert, hätte dies aber nie wirklich. „Der Abwehrwille einer Bevölkerung, die unter Bombenangriffen steht, ist in der Vergangenheit eher gestiegen“, stellte der Militärstratege klar.

Luftabwehr Priorität Nummer eins

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Luftabwehr am Donnerstagabend in einem Tweet auf X als Priorität Nummer eins. Dazu bedürfe es aber der Hilfe und Lieferungen der NATO. Diese habe allerdings einen zu geringen Bestand an Werfern und Munition für die Fliegerabwehrwaffen, berichtet Gressel. In Deutschland hinke man beispielsweise mit der Produktion der Patriot-Raketen nach und deshalb wäre es schwierig, die Ukraine kontinuierlich mit Abfangflugkörpern zu versorgen. Währenddessen bedient sich Russland mit Raketen aus Nordkorea und Drohnen aus dem Iran.

Fakt ist jedenfalls, dass sich der Ukraine-Krieg mittlerweile zu einem Stellungskrieg mit sehr geringen Geländegewinnen auf beiden Seiten entwickelt hat. Gressel nennt folgenden Grund dafür: „Keine der beiden Seiten kann mechanisierte Kräfte zusammenziehen, um einen Durchbruch zu erzielen.“ Das liege zum einen daran, „dass Artillerie über computergestützte Systeme sehr schnell angefordert werden kann“. Zum anderen würden die Drohnen ihre Aufklärung weit in den Gebieten des Gegners betreiben. „Das heißt, wenn der Gegner Kräfte für einen Angriff zusammenzieht, weiß das die Gegenseite meist schon im Voraus und kann sich dementsprechend vorbereiten“, erklärte Gressel. Drohnen würden außerdem kleine Sprengsätze in feindliche Gebiete transportieren und so Fahrzeuge außer Gefecht setzen.