Wie das wohl zusammengehe, wurde der erste Außenminister der neuen Republik Slowenien gefragt: Der ganze Kontinent schließt sich zusammen, und ausgerechnet Jugoslawien, das große, geachtete, das in vieler Hinsicht westlichste der östlichen Länder, bricht auseinander? Der Minister, Dimitri Rupel, war ehrlich erstaunt über die Frage. Aber das sei doch alles andere als ein Widerspruch! Nein, eine „Insel“ wolle Slowenien nicht werden. Im Gegenteil. Dass Europa zusammenwuchs und Jugoslawien auseinanderfiel, seien „zwei Seiten desselben Prozesses“.
Rupel wurde kaum verstanden. Aber er hatte recht. 1991 war das Jahr des „Wegs nach Maastricht“ – zu dem historischen Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaft. Aus einem Zollverein wurde eine politische Union mit einem gemeinsamen Markt. Allen in Europa war klar: Im Westen des Kontinents entstand ein gewaltiger Magnet. Er zog neue Mitglieder an, Österreich, Schweden, Finnland. Die östlichen Nationen, die gerade die KP-Herrschaft abschüttelten, wollten bald folgen. Es herrschte das Regatta-Prinzip: Wer am kräftigsten ruderte, kam als erster ins Ziel.
So stark war die Anziehungskraft des Magneten, dass er die Mehrvölkerstaaten im Osten des Kontinents zerriss. Alle drei: Aus der Sowjetunion machten sich Litauen, dann Estland, dann Lettland davon. In Jugoslawien fürchteten die Menschen in den westlichsten – und reichsten – Republiken, dass sie die „Rückkehr nach Europa“ mit dem Ballast an wirtschaftlicher und politischer Rückständigkeit in den südlichen Republiken nicht schaffen würden. Gut ein Jahr später kamen auch Tschechen und Slowaken zu der Überzeugung, dass sie ohne die je anderen bei der Regatta die besseren Chancen hätten.
Die Sowjetunion und die Tschechoslowakei zerbrachen an ihren Sollbruchstellen: den Grenzen ihrer Teilstaaten. In Jugoslawien dagegen wurde fast ein Jahrzehnt Krieg um Grenzen geführt. Das Problem war in der Verfassung angelegt. Der Staat bestand einerseits aus sechs „Republiken“ und zwei „autonomen Provinzen“, andererseits aber „gleichberechtigten Völkern und Völkerschaften“. Die Völker hätten sich, hieß es dort, aus freien Stücken zusammengeschlossen und könnten sich auf Wunsch auch wieder trennen. Ein „Volk“, das war die ethnische Gemeinschaft, die sich einen Bundesstaat mit anderen teilte und selbst über mehrere Bundesstaaten verteilt sein konnte. Wo also trennen?
Jugoslawien hatte somit ganz offiziell zwei Sorten Sollbruchstellen: Einmal die Grenzen seiner sechs Teilrepubliken und dann die ideellen Grenzen zwischen den „Völkern“ – Grenzen, die quer durch die Republiken, durch Städte und Dörfer und oft quer durch Familien oder durch einen Kopf gingen. Beide Prinzipien widersprachen einander. Kroatien war souverän. Aber als „souverän“ bezeichneten sich auch die dort lebenden Serben, ein Achtel der Bevölkerung. Wo die ethnische Grenze und die der Teilrepubliken zusammenfielen, war die Trennung so wenig ein Problem wie im Falle Litauens oder der Slowakei – Grund für Spannungen, aber nicht für einen langen Krieg.
Zwar waren es nicht „Kräfte“, „Magneten“ oder „Prinzipien“, die ein Jahrzehnt lang Krieg gegen einander führten, sondern konkrete Menschen mit Namen und Anschrift, mit viel bösem Willen und skrupellos eingesetzter Macht. Aber auch Gutwillige fanden keine Formel, wie man den Grundwiderspruch des Vielvölkerstaats friedlich hätte entwirren können. Internationale Vermittler bissen sich an einer Friedenslösung jahrelang die Zähne aus. Noch die Nachkriegsordnung blieb instabil. Nicht Slobodan Milošević, der Anführer der serbischen Kriegspartei, war das Problem Jugoslawiens. Er nutzte es nur.
Keine Laune der Verfassungsväter war schuld, dass das Land so eigentümlich konstruiert war, auch nicht der Kommunismus. Gebildet am Ende des Ersten Weltkriegs aus Serbien und Montenegro sowie Teilen der untergehenden Donaumonarchie, litt der neue Staat von Anfang unter Konflikten zwischen seinen Volksgruppen. Der König beschloss, keine Völkerschaften mehr zu kennen, sondern nur noch Jugoslawen. Aber das war nicht die Lösung. Hinter der ethnisch neutralen Fassade setzte sich die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die serbische, nur umso gründlicher durch.
Nazi-Deutschland überfiel das Land und teilte es auf. Nach jahrelangem Bürgerkrieg und einem Völkermord an Serben, Juden und Roma eroberten die pro-jugoslawischen Kommunisten die Macht. Sie wollten die Fehler der Zwischenkriegszeit unbedingt vermeiden. Die Volksgruppen wurden alle anerkannt, auch neue, Keine durfte die andere dominieren. „Brüderlichkeit und Einheit“ war die neue Formel. Verschieden und doch gleich, sollte das heißen.
Was klingen sollte wie Dialektik, war in der Praxis oft nur ein Widerspruch. Immer sorgfältiger wurde das Gleichgewicht zwischen „Nationen“ und „Nationalitäten“ austariert. Posten und Ressourcen wurden quotiert. Wer hatte mehr, wer bekam weniger? Alles sollte gerecht verteilt sein. Gerade das war ungerecht. Wenn etwa ein Bosnier wegen Korruption ins Gefängnis musste, wurden bald darauf auch ein Serbe und ein Kroate verurteilt – unabhängig von der tatsächlichen Verfehlung. Und wie ließ sich der Bau der Uni-Bibliothek in Prishtina gegen eine Autobahn in Kroatien aufrechnen?
Die Formel, die das Land befrieden sollte, rief im Gegenteil immer mehr Konflikte hervor. Die Albaner im armen Kosovo beklagten, dass die Schere zwischen armen und reichen Republiken immer weiter aufging. Die reichen Slowenen dagegen beschwerten sich, sie müssten in ein Fass ohne Boden zahlen. Mit anderen Worten: Alle fühlten sich von allen ausgebeutet. Und alle zu Recht.
Tito hatte in dem System die Position des Schiedsrichters bekleidet. Er sollte alle Volksgruppen gerecht behandeln, konnte sie in seiner Rolle aber gut gegen einander ausspielen. Er starb 1980. Ohne Schiedsrichter funktionierte sein System nicht mehr. Die Vertreter der sechs Republiken und der beiden autonomen Provinzen konnten sich auf nichts mehr einigen. Am Ende stand als logische Lösung die Aufteilung. Sie wurde eine Katastrophe. Rund 120.000 Menschen kostete sie das Leben, Millionen die Heimat.
Versöhnung zwischen den früheren Kriegsparteien blieb aus. Fast alle sieben Nachfolgestaaten fielen wirtschaftlich zurück, die meisten, wenigstens zeitweise, auch im Niveau an politischer und medialer Freiheit. Dass sie fast alle nun ethnisch homogen waren, brachte keinen Trend zur Demokratie hervor, im Gegenteil. Nationale Führer suggerierten, man sei ja jetzt unter sich, Institutionen seien da nicht mehr so wichtig.
Im staunenden Westen wurde das blutige Ende Jugoslawiens als exotisch, „balkanisch“ abgetan. Und spielten sie „da unten“ nicht das 19. Jahrhundert nach? Dabei sind die Widersprüche des untergegangenen Landes nur zu aktuell. Die richtige Formel dafür, wie ethnische Verschiedenheit und bürgerliche Gleichheit ins Verhältnis zu bringen sind, hat auch das Europa des 21. Jahrhunderts noch nicht gefunden.
Norbert Mappes-Niediek