Sie weiß nicht, ob sie ihn überhaupt erkennen würde. Vielleicht an seinem roten Haar. „Als er gekidnappt wurde, war er gerade acht Monate alt“, erinnert sich Ofri Bibas-Levy. „Heute ist Kfir schon ein Jahr und acht Monate und kein Baby mehr. Ich weiß nicht, womit er gern spielt, was er gelernt hat. Das letzte Mal, als ich ihn sah, mochte er es sehr, gekitzelt zu werden.“
Bibas-Levy ist Kfirs Tante und die Erinnerung an ihren verschleppten Neffen und seine Eltern begleitet sie Tag für Tag. An diesem 7. Oktober, an dem ganz Israel der Opfer des verheerendsten Terroranschlags in der Geschichte des Landes gedachte, war der Schmerz jedoch besonders stark. Mehr als 1200 Menschen wurden vor einem Jahr von der Hamas ermordet, als tausende Terroristen aus Gaza israelische Gemeinden im Süden des Landes überrannten.
Ein stilles Erinnern
Das Gedenken war allerdings ein stilles Erinnern und es stand im Zeichen des Krieges. Derzeit begrenzt die israelische Armee Versammlungen wegen der Kämpfe mit der Hisbollah und der Raketenangriffe aus dem Libanon auf 2000 Teilnehmer. So wurde die Veranstaltung der Angehörigen der Opfer, zu der 40.000 Menschen im Hayarkon-Park in Tel Aviv erwartet worden waren, auf Familienmitglieder beschränkt.
Yonatan Shamriz, dessen Bruder Alon im Dezember zusammen mit zwei weiteren Geiseln irrtümlich von israelischen Truppen getötet wurde, entschuldigte sich bei allen, die teilnehmen wollten und sagte, er hoffe auf „bessere Tage, an denen wir ohne Einschränkungen und ohne Spaltungen zusammenstehen können“.
Geiselfamilien untersagten Regierung die Nutzung von Fotos und Namen
Die staatliche Gedenkfeier fand am Dienstag sogar komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nach heftiger Kritik von Überlebenden und Geiselangehörigen hatte die umstrittene Verkehrsministerin Miri Regev vom rechtskonservativen Likud beschlossen, die Zeremonie Ende September aufzuzeichnen. Die betroffenen Kibbuzim und Dutzende von Geiselfamilien hatten nicht nur ihre Mitwirkung verweigert, sie hatten der Regierung zudem untersagt, die Namen und Fotos der Opfer zu verwenden. Die Aufzeichnung mit einer Ansprache von Premierminister Benjamin Netanjahu wurde am späten Montagabend im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender gezeigt.
Unermüdlicher Einsatz
In Dutzenden israelischen Städten fanden zudem kleinere Gedenkveranstaltungen von Angehörigen und Freunden statt. Am Vorabend des Jahrestages hatten sich Familien und Hunderte Unterstützer auf dem sogenannten Platz der Geiseln in Tel Aviv versammelt, um mit Reden und Liedern an ihre Liebsten zu erinnern. Bei dem Massaker hatte die Hamas auch etwa 250 Menschen verschleppt, darunter die vierköpfige Bibas-Familie mit dem kleinen Kfir. Bis auf ihn und seinen Bruder Ariel (5) wurden Ende November alle Kinder und Jugendlichen durch einen Deal zwischen Israel und der Hamas freigelassen. Heute, ein Jahr später, sind noch immer 100 Geiseln in Gaza. Ihre Familien setzen sich unermüdlich für ihre Freilassung ein.
Wie Tomer Keshet, Cousin des Familienvaters Yarden Bibas. „Wir haben uns mit allen möglichen Menschen getroffen, die Einfluss haben, sind nach Katar geflogen, in die USA, nach Europa. Doch nichts ist geschehen. Sie sind nicht hier!“ Gleichsam macht Keshet klar, dass er nicht aufhören wird, für die Freilassung zu kämpfen. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Welt das Interesse an den Geiseln verliert. Denn das ist der Moment, an dem sie sterben.“