Israels Streitkräfte sind in den letzten Stunden Richtung Rafah vorgerückt und schüren damit Sorgen vor einer folgenschweren Militäroffensive. In der Nacht auf Dienstag habe das Militär den Grenzübergang Kerem Schalom beschossen und auch die palästinensische Seite des nahen Grenzübergangs Rafah ins Visier genommen, berichteten palästinensische Medien, der US-Sender CNN und das Nachrichtenportal „Axios“. Eine Waffenruhe ist noch nicht in Sicht.
Israels Verteidigungsminister Joav Galant sprach von einer mehrstufigen Invasion, die gestoppt werden könne, wenn die Hamas sich zu einer vernünftigen Verhandlungslösung zum Austausch der Geiseln bereit erkläre. Die US-Regierung teilte später mit, sie gehe nicht davon aus, dass die lange angekündigte Großoffensive des israelischen Militärs auf Rafah bereits begonnen habe.
Die islamistische Hamas hat nach eigenen Angaben einem von den Vermittlern Ägypten und Katar unterbreiteten Vorschlag für eine Waffenruhe im Gazakrieg zugestimmt. Das teilte die Organisation am Montagabend auf Telegram mit. Nach Angaben aus israelischen Kreisen ist der Vorschlag inakzeptabel. Es handle sich um einen „aufgeweichten“ ägyptischen Entwurf, sagte ein Insider. Darin seien „weitreichende“ Schlussfolgerungen enthalten, denen Israel nicht zustimme.
Nur ein „Trick“
Der israelische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hält israelischen Medienberichten zufolge die Zustimmung der islamistischen Hamas zum Vermittler-Vorschlag für eine Waffenruhe in Gaza für einen „Trick“. „Es gibt nur eine Antwort auf die Tricks und Spiele der Hamas: einen sofortigen Befehl, Rafah zu erobern, den militärischen Druck erhöhen und Hamas weiter bis zur vollständigen Niederlage zu bedrängen“, sagte der Rechtsaußen-Politiker.
Auch die USA meldeten kurz nach der Meldung der Hamas zu Wort. „Wir schauen uns derzeit diese Antwort an. Und wir besprechen sie mit unseren Partnern in der Region“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby. CIA-Chef William Burns sei in der Region und arbeite mit den Israelis daran, eine Einigung zu erzielen, so Kirby. „Das Letzte, was ich von diesem Podium aus tun möchte, ist, etwas zu sagen, das diesen sehr sensiblen Prozess noch mehr gefährden könnte. Wir befinden uns gerade in einer kritischen Phase“, so Kirby. Das Schlimmste, was man nun könne, sei, darüber zu spekulieren, was die Antwort der Hamas genau beinhalte.
Menschem im Gazastreifen feierten auf den Straßen
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas begrüßte die Ankündigung und rief die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf Israel für eine Zustimmung zu der Vereinbarung auszuüben, berichtete die palästinensische Nachrichtenagentur im Westjordanland. Im Gazastreifen strömten nach Bekanntwerden der Zustimmung der Hamas zu dem Vermittler-Vorschlag Menschen auf die Straßen und feierten, als sei Frieden bereits näher gerückt. Sie riefen „Gott ist groß“.
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi zeigte sich optimistisch. Er verfolge die „positiven Entwicklungen“ aufmerksam, postete er auf X. Er rief alle Parteien dazu auf, sich weiter um eine Einigung im Gazakrieg zu bemühen, um die Tragödie der Palästinenser zu beenden.
Anderer Vorschlag als vor zehn Tagen
Zuvor hatte der Leiter des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyeh, beide Vermittler darüber informiert, dass die Hamas ihren Vorschlag für eine Vereinbarung über eine Waffenruhe annehme. Dazu habe er mit dem Ministerpräsidenten Katars, Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani, und dem ägyptischen Geheimdienstchef Abbas Kamel telefoniert. Aus Hamas-Kreisen in der libanesischen Hauptstadt Beirut hieß es jedoch, es handle sich um eine „Schlüsselentwicklung“.
Der Fernsehsender Channel 12 berichtete unter Berufung auf ungenannte israelische Regierungsvertreter, Israel habe die Antwort der Hamas von den Vermittlern erhalten und werte sie derzeit aus. Es solle im Verlauf des Abends eine Reaktion geben.
Allerdings hieß es, dass es sich nicht mehr um den gleichen Vorschlag handle, auf den sich Israel und Ägypten vor zehn Tagen geeinigt hätten und der die Grundlage indirekter Verhandlungen gewesen sei. Es seien „alle möglichen Klauseln“ eingefügt worden, hieß es in dem Bericht. Es handle sich um einen einseitigen Vorschlag ohne Einbeziehung Israels, stand in einem weiteren Bericht. Ägypten habe die Bestimmungen einseitig gelockert, damit die Hamas zustimme. Der Vorschlag sei in dieser Form für Israel nicht akzeptabel.
Werden Geiseln freigelassen, wird Rafah nicht angegriffen
Israel und die Hamas verhandeln seit Monaten nicht direkt miteinander, es gibt aber Gespräche. Deren Schwerpunkt war zuletzt aus Katar nach Ägypten verlegt worden. Insgesamt hatten Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Organisationen am 7. Oktober mehr als 250 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Im Laufe einer einwöchigen Feuerpause Ende November vergangenen Jahres hatte die Hamas 105 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen. Es war zuletzt befürchtet worden, dass von den noch immer im Gazastreifen vermuteten 133 Geiseln inzwischen viele nicht mehr am Leben sind.
Die Hamas forderte bis zuletzt einen umfassenden Waffenstillstand, einschließlich eines vollständigen Abzugs der israelischen Armee aus dem Gazastreifen. Israel, das die komplette Zerschlagung der Hamas zum Ziel erklärt hat, lehnte dies bisher ab. Außenminister Israel Katz hatte zuletzt erklärt, sein Land sei bereit, den angekündigten Militäreinsatz in der Stadt Rafah zu verschieben, sollte ein Deal zur Freilassung von Geiseln zustande kommen. Erst am Montag hatte das israelische Militär Menschen in Rafah im südlichen Gazastreifen zur Evakuierung aufgerufen. Rund 100.000 Personen wurden demnach per SMS, Telefon sowie mit Flugblättern und über arabischsprachige Medien informiert. Die Empfehlung lautete, sich in das einige Kilometer nördlich gelegene Al-Mawasi-Lager zu begeben. Israel will mit dem Militäreinsatz in Rafah die verbliebenen Bataillone der islamistischen Terrororganisation Hamas zerschlagen, die sie seit Oktober in dem Küstenstreifen bekämpft. Es werden die Hamas-Führung und auch Geiseln in der Stadt an der Grenze zu Ägypten vermutet.
Angehörige der Geiseln und ehemalige Geiseln hatten in den vergangenen Tagen die israelische Regierung eindringlich aufgefordert, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. In einem Schreiben an Benny Gantz und Gadi Eisenkot, Minister im Kabinett von Regierungschef Benjamin Netanyahu, hatten sie noch am Montag Antworten zur Haltung der Regierung gefordert. „Wir Familienmitglieder beobachten voller Schrecken, was passiert“, schrieben sie auch mit Blick auf die Vorbereitungen der Rafah-Offensive. „Netanyahu macht den Deal bewusst zunichte und überlässt die Geiseln ihrem Tod.“