Aus Sicht Israels ist die Situation eindeutig: Eine Organisation, die Terroristen der Anschläge vom 7. Oktober in den eigenen Reihen hat, darf nicht existieren. Entsprechende Vorwürfe gegen das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA erschüttern Geldgeber wie Deutschland und auch die Weltorganisation. Doch die Situation ist komplex - und voreilige Schritte könnten Hunderttausende Menschenleben gefährden.
Schwere Terrorvorwürfe
Vor dem Hintergrund schwerer Terrorvorwürfe beginnt heute die Überprüfung des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten durch eine unabhängige Expertengruppe. Unter Leitung der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna soll beurteilt werden, inwiefern UNRWA Maßnahmen zur Wahrung der Neutralität eingehalten oder verletzt hat.
Es war ein Tag Ende Jänner, den Philippe Lazzarini wohl nie vergessen wird. Der Chef des UNO-Palästinenserhilfswerks, das mehr als 30.000 Mitarbeitende beschäftigt, war zu einem seiner regelmäßigen Gespräche im israelischen Außenministerium in Jerusalem geladen. Doch das Treffen ähnelte keinem der vorherigen: Lazzarini wurde mit zwölf Namen konfrontiert. Namen seiner Mitarbeiter. Angestellte der Vereinten Nationen, der Neutralität verpflichtet, die an dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober mit mehr als 1.200 Todesopfern beteiligt gewesen sein sollen. Schlimmer geht‘s eigentlich nicht.
Dem Vernehmen nach präsentierte die israelische Regierung zwar weder Bilder noch Videos, dafür aber Geodaten von Mobiltelefonen. Die unerhörten Vorwürfe hielten einer ersten Prüfung durch die Vereinten Nationen stand, Lazzarini flog nach New York, um UNO-Generalsekretär António Guterres persönlich von der schwersten je erhobenen Beschuldigung gegen UNRWA zu informieren. Guterres stufte diese als „glaubwürdig“ ein, feuerte die Verdächtigen - sofern noch am Leben - und kündigte umfassende Aufklärung an. Er weiß: Mit UNRWA steht und fällt die lebenswichtige Hilfe für etwa zwei Millionen Notleidende im Gazastreifen.
Auch mehr als ein Dutzend der größten Geldgeber reagieren auf den Skandal: Unter anderem die USA und Deutschland frieren ihre Zahlungen ein; etwa die Hälfte des Budgets droht wegzubrechen. Im Moment reicht das Geld nur noch für wenige Wochen. Umso mehr Gewicht bekommt eine bereits im Voraus angekündigte unabhängige Prüfung der UNRWA-Strukturen: Ab Mittwoch soll die französische Ex-Außenministerin Catherine Colonna mit strengem Blick urteilen, ob das Hilfswerk genug gegen Extremismus in den eigenen Reihen tut und ob es Veränderungen braucht. Ein Zwischenbericht wird für Ende März erwartet.
Von israelischer Seite gab es noch weitere Vorwürfe gegen UNRWA. Vom Militär hieß es etwa vergangene Woche, man habe einen Hamas-Tunnel unter dem Hauptquartier der Organisation in der Stadt Gaza entdeckt, der der Hamas als Datenzentrale für den militärischen Geheimdienst der Miliz gedient haben soll. Unabhängig konnten die Angaben nicht überprüft werden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verlangt die Auflösung des Hilfswerks: „UNRWA ist völlig von der Hamas unterwandert“, sagte er zuletzt. Die Organisation habe grundsätzlich Schlagseite, antisemitische Ideologie werde unter anderem durch UNRWA-Schulbücher gelehrt. So weit gehen Washington und Berlin nicht, doch die Botschaft ist klar: Es muss etwas passieren.
Meinungen gehen stark auseinander
Trotz der beispiellosen Vorwürfe gegen UNRWA sieht Experte Daniel Forti von der Denkfabrik Crisis Group keine Fahrlässigkeit: „Ich glaube nicht, dass UNRWA oder die UN irgendeinen der Vorwürfe ignoriert haben, die Israel in der Vergangenheit erhoben hat“, sagte er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Es würde seit Jahren mit einer Reihe von Maßnahmen versucht, Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter zu verhindern. Zu diesen gehöre auch, dass UNRWA die Liste mit Namen aller seiner Mitarbeitenden jährlich zur Prüfung durch die Geheimdienste nach Israel schickt, erzählt eine langjährige Mitarbeiterin des Hilfswerks. Israel habe damit ein indirektes Mitspracherecht beim Personal.
Experte Forti mahnt auch dazu, bei der Einschätzung UNRWAs realistisch zu bleiben: Aufgrund „der starken Verwurzelung der Hamas in der lokalen Bevölkerung ist es für UNRWA schwierig, sicherzustellen, dass seine Schutzmaßnahmen gegen Fehlverhalten des Personals oder die Umleitung von Hilfsleistungen unfehlbar sind“, schrieb er in einer Analyse, die auch auf der UNRWA-Seite veröffentlicht wurde. Im persönlichen Gespräch wird deutlich, welche Schockwellen die Terrorwürfe im UNO-System ausgelöst haben - dabei warnen Diplomatinnen und Diplomaten auch vor einem vorschnellen Urteil über die gesamte UNRWA-Belegschaft, von der im Gaza-Krieg bei Bombardements weit über 140 getötet wurden.
Es werden Vergleiche gezogen: Waren nicht auch US-Militärangehörige am Sturm auf das Kapitol in Washington beteiligt? Und hatte die deutsche Bundeswehr nicht gerade einen Skandal bezüglich Rechtsradikaler in ihren Reihen?