Prolog: Es zieht kein Herbstmärchen über das Deutschland des Jahres 2019. Die rechte AfD feiert bei den Landtagswahlen im Osten Erfolge, ein rechtextremer Terrorist erschießt in Halle zwei Menschen. Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ist niemandem im Land so recht nach Feiern zumute. Selbst der Bundesinnenminister zeigt sich unvorbereitet. Eilig muss er Geld nachfordern für die Feiern zum 30. Jahrestag von Mauerfall und deutscher Einheit.Vor zehn Jahren, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, hat Kanzlerin Angela Merkel die Staats- und Regierungschefs der EU zum „Fest der Freiheit“ ans Brandenburger Tor geladen. Dieses Jahr bleibt es merkwürdig still. Deutschland ist mit sich selbst beschäftigt. Von einer „Pathologisierung des Ostens“ spricht der (Ost-)Berliner Publizist Jens Bisky. Der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze sieht in der Vereinigung im Rückblick eine „Kolonialisierung de luxe“. Der Leipziger Religionssoziologe Detlef Pollack zweifelt generell am Beitrag der ostdeutschen Bürgerbewegung an der Revolution von 1989. Einheitshoffnungen und Mauerreste – eine Spurensuche in Berlin.
Die eine Frage
Peter Brinkmann, damals 44 und Reporter, heute Rentner:
Den guten Journalisten und den deutschen Urlauber unterscheidet wenig. „Ich bin am 9. November 1989 schon früh mittags ins Pressezentrum der DDR und habe mein Jackett über einen Stuhl in der ersten Reihe geworfen“, sagt Peter Brinkmann. Der Bild-Reporter weiß, nur von ganz vorne werden kritische Zwischenfragen auch wirklich gehört. „Ich war ein Anti-Mauerkämpfer. Schon immer“, sagt Brinkmann. Der Mann ist in Berlin-Charlottenburg, im West-Teil der Stadt, geboren. Nun wartet er auf die Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski. Es soll auch um Reiseerleichterungen für DDR-Bürger gehen. Schabowski hat die entscheidende Notiz vorher nicht gelesen, stockt, als er vom Blatt abliest. Ein italienischer Journalist fragt nach. Brinkmann hakt nach und stellt von seinem Platz in der ersten Reihe die eine Frage: „Ab sofort?“, ruft er in die stockenden Ausführungen Schabowskis. Der stockt, schaut auf und sagt den einen erlösenden Satz. „Ab sofort. Unverzüglich!“. Bald darauf geht die Mauer auf. Der Rest ist Geschichte? Nicht ganz. Den Brinkmann lüftet ein kleines Geheimnis. Ganz so überraschend fällt die Mauer gar nicht. Schon Ende Oktober hatte Schabowski Walter Momper getroffen, den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin. Er hatte ihm signalisiert, dass die neue DDR-Führung an Reiseerleichterungen arbeite. Damit sich der West-Teil der Stadt vorbereiten konnte. Der genaue Tag war offen. „Aber dass was passiert, das wusste auch der Westen. Sonst hätten doch die ganzen Kondome und das Begrüßungsgeld für die Ost-Bürger gar nicht gereicht“, sagt Brinkmann. Die Geschichte eröffnet auch dreißig Jahre später noch neue Perspektiven.
Die versunkene Heimat
Steffen Mau, damals 21 und Wehrpflichtiger der Nationalen Volksarmee, heute Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin
Steffen Mau schiebt Wache bei der Nationalen Volksarmee der DDR am Abend des 9. November. „Zwei Stunden Wache, zwei Stunden Bereitschaft, zwei Stunden Schlaf – eine relativ anstrengende Routine“, sagt Mau. Irgendwann kommt das Gerücht, die Mauer sei auf. Unsicherheit macht sich breit, wie reagieren die wankenden Autoritäten. „Die innere Kompassnadel hat heftig gezittert“, erinnert sich Mau und ergänzt: „Natürlich ist in der Nacht auch Alkohol geflossen.“ Mau hofft damals auf eine Demokratisierung der DDR. Was kommt, ist die Vereinigung mit der Bundesrepublik. Schneller als erwartet. Alles dreht sich. Die DDR versinkt. Mau, der Professor der Soziologie, hat sich einen wachen Blick auf das *Vergangene bewahrt. „Lütten Klein“, heißt sein neues Buch, es geht um eine Neubausiedlung in den 70ern in Rostock. Und um die nachträgliche Idealisierung der untergegangenen DDR. Von einer „positiven Grundhaltung“ spricht Mau, vor allem in der „Generation der heute über 70-Jährigen, die in der Nachkriegszeit vom Wiederaufbau und der Bildungsexpansion im anderen deutschen Staat profitiert hat.“ Mau schildert aber auch den Reformstau, der mit zum Unmut unter den Jungen geführt hat. Wann ist die Aufbruchstimmung nach dem Mauerfall gewichen? „Eigentlich schon früh“, sagt Mau. In den Jahren 1991/92 mit den ersten großen Entlassungswellen. „Das traf viele Menschen in ihrem arbeiterlichen Selbstwertgefühl.“ Die Welt des Betriebs als gemeinschaftsstiftende Macht fällt weg. Diese Lücke besetzen heute zum Teil andere wie die AfD. Von „Veränderungserschöpfung“ spricht Mau mit Blick auf die Menschen im Osten. Einheit, Hartz IV, Digitalisierung. „Die haben vieles erlebt“, sagt Mau. „Wenn da jemand kommt, der sagt: Ihr könnt so bleiben, wie ihr seid. Dann klingt das attraktiv.“ Auch Revolutionen machen müde.
Leise Zweifel
Metin Yilmaz, damals 28, arbeitet bis heute als Fotojournalist:
„Ich habe Flüchtlinge fotografiert“, sagt Metin Yilmaz. Der Fotojournalist hat am Abend des 9. November 1989 Bilder gemacht von DDR-Übersiedlern, die über Ungarn und die CSSR in den Westen geflohen waren und nun im Westen Berlins in Notunterkünften lebten. Yilmaz kam gerade zurück in seine Wohnung, als es hieß: „Kannst gleich wieder umkehren. Die Mauer ist auf.“ Yilmaz fährt zum Ku‘damm. Durch das Spalier der Menschen rollen die Trabis. Yilmaz fotografiert und fährt weiter an den Übergang Invalidenstraße. „Dort standen Soldaten der NVA mit britischen Soldaten auf der Mauer. Das war surreal“, erinnert er sich. Aus Ost-Berlin strömen die Menschen nach Westen, ein paar West-Berliner wählen den umgekehrten Weg hinter die Mauer, in eine andere Welt. Auch Yilmaz. In Istanbul hat er die deutsche Schule besucht, dann aus der Türkei für deutsche Magazine gearbeitet. 1980 nach dem Putsch der Militärs hat er das Land verlassen, später in West-Berlin politisches Asyl beantragt. Nun läuft er durch Ost-Berlin und fragt sich: „Wie werden die Autoritäten hier auf die veränderte Situation reagieren.“ Im Dezember macht Yilmaz in Dresden Fotos, als Kanzler Helmut Kohl vor den jubelnden Menschen spricht. „Besser Kohl als gar kein Gemüse“, steht auf einem selbstgemalten Plakat. Yilmaz begreift: Es wird schnell gehen mit der Einheit. 1990 erhält er den bundesdeutschen Pass, ebenso wie im gleichen Jahr mit der Vereinigung die DDR-Bürger. Sein Blick dreißig Jahre nach dem Mauerfall auf das vereinte Land: „So ganz hat Deutschland seine neue Rolle noch nicht gefunden.“
Glücklich auf den Rechtsstaat
Ulrike Poppe, damals 36 und Bürgerrechtlerin, heute Bürgerrechtlerin
Dort, wo Ulrike Poppe im Prenzlauer Berg im einstigen Ost-Berlin lebt, steht auf einem Plakat: „Aufbruch 1989. Erinnern 1989. Ort der Opposition.“ Die Geschichte bleibt also lebendig. Ulrike Poppe ist am Abend des 9. November *1989 für die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ unterwegs. Zurück am Prenzlauer Berg stößt sie zu einer Geburtstagsparty. „Irgendwann war dort der Wein alle, und jemand ging in eine Kneipe, um Nachschub zu holen. Als er zurückkam, erzählte er: ,Der Wirt schenkt Freibier aus. Die Mauer ist offen.‘“, erzählt Poppe. Sie ist dann gleich zwei Mal rüber in den Westen. Einmal in der Nacht über die Mauer, am nächsten Tag mit ihren Kindern über die Bornholmer Straße. Viel wird heute diskutiert, über den Prozess der Vereinigung. Ist er zu schnell gekommen? Ließ sich die DDR in den Verhandlungen mit dem Westen unterbuttern. Poppe macht sich keine Illusionen. „Die massiven Abwanderungen aus dem Osten hielten auch 1990 noch an, die Wirtschaft in der DDR lag am Boden, die staatliche Verwaltung funktionierte kaum noch. In dieser Situation schien für viele Eile geboten.“ Alles scheint möglich in diesem Herbst ’89. Was kommt, ist keine neue gesamtdeutsche Verfassung, sondern die bloße Erweiterung der Bundesrepublik. Auch hier blickt Poppe zufrieden zurück. „Ich gehöre nicht zu denjenigen, die enttäuscht sind. Wir haben unser wichtigstes Ziel erreicht: durch freie Wahlen wurde eine demokratische Entwicklung eingeleitet. Die Politik ist dem Recht unterworfen.“
Unglaublich profitiert
Ska Keller, damals 7 und Schülerin, heute Grünen-Fraktionsvorsitzende im Europaparlament
An den Abend des 9. November 1989 kann sich Ska Keller nicht wirklich erinnern. „Ich war damals sieben“, sagt sie. Aber was sie mitbekommen hat, war die Aufregung im Herbst 1989 bei ihren Eltern. „Die waren bei Demos und haben mich auch mitgenommen, das hat schon geprägt.“ Ebenso wie die erste Fahrt 1989 nach West-Berlin. „Ich saß im Trabi auf dem Beifahrersitz und musste erstmal nach hinten auf die Rückbank. Im Westen war das für Kinder unter 12 Jahren verboten, vorne zu sitzen.“ Was bleibt vom Mauerfall? Ska Keller mag das Wort nicht. „Die Mauer ist nicht einfach umgefallen. Da sind Menschen ein hohes Risiko eingegangen. Politik ist Bewegung.“ Ska Keller ist in Guben aufgewachsen, an der Grenze zu Polen. „Diese Grenze blieb ja noch lang. Und die Kontrollen. Das Trennende von Grenzen, diese Erfahrung hat sich mir eingeprägt.“ Keller lebt heute in Berlin und Brüssel. Was bleibt 30 Jahre nach dem Ende der Berliner Mauer? „Der November 89 ist nicht nur ein deutsches Ereignis, sondern eine europäische Umwälzung. Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, das grenzenlose Reisen - ich und meine Generation haben von dieser europäischen Revolution unglaublich profitiert.“
Epilog: Der Spreewald ist eine idyllische Flusslandschaft eine Zugstunde östlich von Berlin, bis zur polnischen Grenze ist es nicht mehr weit. Ausflügler aus der Hauptstadt und aus dem Osten Deutschlands genießen dort gern die Ruhe. Auch, wenn sich das Herbstlaub schon verfärbt. Vor einer Schleuse stauen sich die Boote der Ausflügler. Die Gäste eines Party-Kahns mit Bierfass an Bord geraten mit anderen Wartenden verbal einander. „Bestimmt, beknackte Wessis!“, motzen die einen. „Boah, Ossis!“ schallt es von anderen zurück. Im Kanu leicht abseits der Szene, dreht sich die Zehnjährige aus Berlin-Kreuzberg um und fragt: „Mama, was sind Wessis?“. Die Einheit kommt voran. Langsam.
Peter Riesbeck aus Berlin