Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am 10. November buchte die "Neue Zeit", für die ich damals arbeitete, für mich ein Ticket nach Berlin. Am Samstag, dem 11. November tauchte ich ein in die geteilte Stadt, deren Bewohner einander mit aller Macht in die Arme strebten. In den Monaten danach näherten sich der Westen und der Osten bis zur Wiedervereinigung an.
Gekürzte Zitate aus den Geschichten, die danach erschienen. Eine Collage:
Tausende von Menschen wälzen sich in die Stadt, wogen über den Kurfürstendamm, bringen den Verkehr zum Erliegen. Trotz des Massenansturms ist die Atmosphäre geprägt von einer berührenden Fröhlichkeit. Niemand, auch nicht die total überlastete Polizei, das U-Bahn- oder das Verkaufspersonal verliert die Nerven.
Chaos
Ich lande in Ostberlin, es ist kein einziges Zimmer frei. Die Dame an der Rezeption eines der drei größeren Hotels im Osten der Stadt, an die Ausländer vermittelt werden, verweist mich an den Westen und warnt mich: "An den Grenzen ist die Hölle los."
Ein Transferbus führt nach Westberlin. Vor uns ein Bild des Chaos: Trabis, Wartburgs und Ladas, dreispurig kriechend. Der riesige Parkplatz beim Flughafen, an dem die Straße vorbeiführt, ist restlos überfüllt. Mein Sitznachbar bringt den Mund nicht mehr zu: "Als ich das letzte Mal da war, standen hier keine zehn Autos."
Am Grenzübergang, einem von dreizehn, die geöffnet sind. "Zweieinhalb Stunden sind wir bei der Polizei um das Visum angestanden, weitere zwei Stunden dann um das Begrüßungsgeld", erzählt Manuela Hirsch. Sie wohnt hundert Kilometer von Berlin entfernt, machte sich um drei Uhr morgens mit der Bahn auf den Weg.
Am Kurfürstendamm, vor dem KaDeWe, dem "Kaufhaus des Westens". Michael Friedrich stellt seine Plastiktüten ab, Weihnachtsgeschenke hat er gekauft, und Süßigkeiten für die daheimgebliebene Frau. Er zieht eine Flasche baby-Sekt aus der Tasche und stößt mit mir an: "Auf das Größte in meinem Leben, darauf, dass ich das erleben durfte!"
Charlie's retired
Samstag, 11. November, 21 Uhr, Checkpoint Charlie, Berlins wohl bekanntester Grenzübergang. Vor einer Stunde war Schichtwechsel, für die Grenzbeamten wird es eine lange Nacht. Seit Donnerstagabend strömen ohne Unterlass Menschen von Ost nach West und von West nach Ost. In roten Lettern ein Graffiti auf der Mauer: "Charlie's retired 10. Nov. 1989".
Der Fußpfad vom Checkpoint Charlie zum Brandenburger Tor wird heute zum Trampelpfad. Auf der Mauer Menschen, hinter der Mauer Baumaschinen, Lkw, Krane: Sonntag früh um 8 Uhr soll die Mauer durchbrochen, ein neuer Grenzübergang eröffnet sein, der Postsdamer Platz.
Jedem sein Stein
Die Polizei appelliert an die Mauerhocker, die Abbrucharbeiten nicht zu behindern. Jubel braust auf, als die Mütze eines Vopos sichtbar wird, der vom Osten aus die Mauer erklimmt, um Kontakt mit einem West-Kollegen aufzunehmen. Ein Knirps quatscht mich an: "Wollen Sie einen Stein von der Mauer? Hab' ich selbst aufgesammelt."
Weiter geht's in Richtung Brandenburger Tor. Alle paar Meter machen sich Grüppchen mit Hammer und Meißel zu schaffen. Warum reißt man sich um ein Stück von der Mauer? "Symbolisch", lautet die knappe Antwort, und der Mann hämmert weiter.
Kein Halten mehr
Hinter dem Brandenburger Tor hat sich eine größere Zahl Vopos postiert. In der Nacht kommen Wasserwerfer zum Einsatz, höre ich später. Doch die Menschen lassen sich nicht mehr von der Mauer spülen.
Die "Allee unter den Linden" heißt östlich des Brandenburger Tores "Straße des 17. Juni", in Erinnerung an den niedergeschlagenen Volksaufstand in der DDR im Juni 1953. Das Volk hat die Straße mittels Papptafel umbenannt, sie heißt jetzt "Straße des 9. November".
Wenn alles wankt und fällt
Sonntag, 12. November, 10 Uhr: Berlin Alexanderplatz, im Osten also. Der riesige Platz ist menschenleer. Der grauverhangene Himmel, die klotzigen Gebäude lassen ihn umso trister erscheinen. Ein paar hundert Meter weiter dichtes Gedränge im Berliner Dom. Domprediger Martin Beer dankt Gott dafür, "dass wir heute das Unglaubliche feiern". "Schaut nicht zurück auf verlorene Jahre, auf verpasste Gelegenheiten", mahnt der Geistliche. Die letzte Zeile des Liedes zum Abschluss hat plötzlich eine neue Bedeutung: "... ich weiß, was ewig bleibet, wenn alles wankt und fällt".
Lindenberg & Co.
Am Nachmittag müssen die Eingänge zu den U-Bahnen zeitweilig gesperrt werden. Polizeibeamte und Vopos versuchen hüben wie drüben, der Lage Herr zu werden. Auch am Abend strömen die Menschen noch nach Westberlin. In der Deutschlandhalle ist seit 14 Uhr ein Riesenkonzert im Gange, innerhalb von zwei Tagen spontan organisiert. DDR-Bürger haben freien Eintritt. Joe Cocker, Udo Lindenberg, Ulrike Meinecke, Konstantin Wecker haben Konzerttermine umgestoßen und treten in Berlin ohne Gage auf.
Das Thermometer zeigt zwei Grad Celsius. Auch am Ku-Damm ist die Party noch lange nicht zu Ende.
Wie das System reagiert
Montag, 13. November: Mehr als vier Millionen Visa hat die Vopo (Volkspartei) seit Donnerstag abend ausgestellt, mehr als drei Millionen DDR-Bürger haben die Gelegenheit zu einer Stippvisite im Westen bereits genutzt.
Von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr abends wird die Sitzung der Volkskammer übertragen, samt Wahl des neuen Vorsitzenden des Ministerrates, Hans Modrow, und - durchaus selbstkritischer - Diskussion.
Die "Gäste aus der DDR"
Dienstag, 14. November, vormittags: Der Ku-Damm ist wieder frei für den Verkehr. Die Verkäufer schöpfen Atem, machen Kassastand, füllen die Regale auf. Rund um den Bahnhof Zoo ist "nur" noch so viel los wie bei uns an einem Weihnachts-Einkaufssamstag. Für die "lieben Gäste aus der DDR", wie es in Leuchtschrift heißt, gibt es immer noch ermäßigten Eintritt ins Kino.
Nach Potsdam im Südwesten muss man jetzt nicht mehr außen herum fahren, höre ich, es gibt wieder den direkten Weg, über die Glienicker Brücke. Geheimnisumwittert war dieser Ort, Berühmt-berüchtigt als Treffpunkt der Geheimdienste von Ost und West, meist zum Zwecke des Agentenaustausches. Leider, die Brücke ist auch heute geschlossen. Das Gemäuer hält der ungewohnten Belastung nicht stand.
Ich passiere die Auslage der "Volksbuchhandlung Humboldt. Gesellschaftlicher Literaturvertrieb". Zwei Damen sitzen einsam drin, beide Funktionärinnen der SED, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, wie ich erfrage. Sie reagieren wie die meisten, mit denen ich in diesen Tagen rede: Mit einer völlig neuen Offenheit, ohne Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. Beiden haben den Schritt in den Westen noch nicht getan. "Aber ich bin schon an der Glienicker Brücke gestanden, mit meinem Mann", gibt eine der beiden, Heidemarie, zu. "Wir wollten nur nicht ohne die Tochter rüber."
Die Wende
Noch hoffen die beiden, dass die eigene Partei es schafft, jetzt doch noch die Wende herbeizuführen. "Wir haben genug eigene Kraft", sagt Katja, "aber es muss jetzt von uns was kommen".
Mittwoch, 15. November, Gethsemane-Kirche, Berlin-Pankow. Die Kirche ist seit Wochen Begegnungsstätte der Opposition. Die Pin-Wände quillen über: Hinweise auf Veranstaltungen, Prozesstermine, Inhaftierte. Überall diese Angst. Ein Aufruf fällt mir besonders ins Auge: "Freunde erkämpft nur ein Gesetz. Ein Gesetz über die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses. Ich flehe Euch an! Das ist jetzt das Wichtigste! Es riecht nach Kristallnacht" Sie ist schon programmiert!"
Von den Ereignissen überrollt
Die Opposition wurde von den Ereignissen überrollt. Vor zwei Monaten hat sich das "Neue Forum" konstituiert. Der Antrag auf Zulassung wurde abgeschmettert, die Gruppierung sei "staats- und verfassungsfeindlich". Am Freitag, dem Tag nach dem Mauerfall, langte ein Schreiben ein, wonach die Angelegenheit neu geprüft werden. Die Montagsdemonstrationen werden über weite Strecken vom "Neuen Forum" getragen. Man will eigentlich keine politische Partei sein, sondern Meinungsforum, ringt um Positionen. Bärbel Bohley, führendes Mitglied des Neuen Forum, hat am Wochenende die Öffnung der Grenzen scharf kritisiert, als "überstürzten und unüberdachten Beschluss", durch den sich die Regierung selbst diskreditiert habe. Man ringt um Veränderungen innerhalb der DDR, das kapitalistische Gesellschaftssystem lehnt man ab, die Wiedervereinigung ist kein Thema.
Vier Monate später
Vier Monate später bin ich wieder in Berlin. Der erste freie Wahlkampf in der DDR. Es ist der 10. März 1990. Eine Woche später, am 18. März, wird gewählt. Hoffnungen, erste Enttäuschungen, Angst vor dem "großen Bruder" im Westen. Gregor Gysi sitzt in Jeans und Pullover auf der Bühne und diskutiert. Er ist Spitzenkandidat der Partei des "Demokratischen Sozialismus", der PDS, ehemals SED. Gysi verspricht der 11jährigen Katja, dass es ihren Hort weiter geben wird, dem Lehrer Detlef Böhm, dass die Schulen weiterhin für alle zugänglich bleiben müssen, und der Mutter Silke Werner, dass er sich dafür einsetzen werde, dass es auch künftig für jedes Kind eine Kindergartenplatz gibt.
Einen Tag vorher, am 9. März, ist Helmut Kohl in Rostock aufgetreten, als Zugpferd der "Allianz für Deutschland" aus CDU, CSU und "Demokratischem Aufbruch", Willy Brandt in Dresden, als Aushängeschild der SPD, Westberlins Oberbürgermeister Walter Momper in Wittenberg.
Die Ernüchterung
Aus dem "Neuen Forum" ist inzwischen eine Partei geworden, das "Wahlbündnis 90", eine Allianz mit "Demokratie Jetzt" und der "Initiative für Frieden und Menschenrechte". Man trifft sich heute an einem vertrauten Ort der Gethsemanekirche. Das "Neue Forum" hat Vertreter aller Parteien eingeladen, sich zu präsentieren. Sie sitzen um den Altar, in den Bänken drängt sich das Volk. Ein "Anwalt des Publikums" sitzt im Mittelgang und erteilt das Wort. Wahlkampf, wie ihn sich die Bürgerbewegung gewünscht hat. Sie tut ihr Bestes, um Personen und Themen zur Basis für die Wahlentscheidung zu machen, und weiß doch, dass sie bereits verloren hat. "Der Bonner Elefantenzirkus hat uns überrollt", sagt Jens Reich vom "Neuen Forum". "Wir wollten Alternativen haben, jetzt wird alles zugedeckt".
Trübsinn und Endzeitstimmung
2,4 Millionen Mitglieder hatte die SED, heute sind es noch 700.000. Im Kreis Plauen sind es von 11.000 noch 248. Die, die bei der Stange blieben, sehen in der Verteidigung der sozialen Errungenschaften der DDR ihr Ziel. Die anderen, die, die sich abgewandt haben von der SED-PDS, haben ihre neue Orientierung noch nicht gefunden. Man will kaufen und reisen, aber man will auch die billigen Wohnungen behalten. Man will vor allem nicht arbeitslos werden. "Trübsinn und Endzeitstimmung" ortet Jens Reich vier Monate nach dem Mauerfall.
Galgenhumor
Gregor Gysi riskiert eine flotte Lippe und sichert der DDR-Partei zumindest das Überleben. "Dont't worry, take Gysi". "Auch Gorbi trinkt lieber Tee als fraternité und egalité." "Keine BRDigung der DDR", das sind die Werbesprüche der PDS. Welten liegen zwischen dem eloquenten Gysi und Noch-Regierungschef Modrow.
Ich treffe mich mit Konrad Elmer, Pfarrer, Mitglied des Vorstandes der Ost-SPD. Er hofft noch, dass die SPD als die neue Linke im Osten das Ruder übernehmen wird. Und mit Rainer Eppelmann, ebenfalls Pfarrer, als Vertreter der Bürgerbewegung Minister ohne Geschäftsbereich in der Übergangsregierung. Er weiß bereits, dass sich die Bürgerbewegung in der Allianz mit der CDU verlieren wird.
Die Wiedervereinigung
Deren Spitzenkandidat heißt Lothar de Maizière und ist Rechtsanwalt, auch er steht der Kirche nahe. Er versucht noch, das Tempo der Wiedervereinigung zu bremsen, doch er ist machtlos gegenüber der "Dampfwalze" Kohl. Er wird am 12. April 1990 zum Ministerpräsidenten ernannt werden und die DDR am 3. Oktober 1990 in die Deutsche Wiedervereinigung führen.
Claudia Gigler