In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erwies sich der 9. November mehrfach als Schicksalstag. Am 9. November 1918 wurde die Deutsche Republik ausgerufen und das Land trat erstmals, begleitet von heftigen Anfangswirren, als demokratischer Staat auf. Genau zwei Jahrzehnte später setzte die Reichspogromnacht ein finsteres Zeichen deutschen Rassenwahns, mit tatkräftigsten Beiträgen im damals eben untergegangenen Österreich. Und der 9. November 1989, der Tag der Öffnung der Berliner Mauer, gilt heute weltweit als Symboltag für die Überwindung nicht nur der Spaltung Deutschlands, sondern auch für das Ende des Kalten Krieges.
Historische Daten, wie sie sich in Schulbüchern finden, scheinen den geschichtlichen Ablauf markant zu unterbrechen und ihm eine neue Richtung zu weisen. Das scheint beim Sturm auf die Bastille so, der am 14. Juli 1789 die Französische Revolution einleitete. Am 25. Oktober (oder nach unserem Kalender am 7. November), begann mit dem Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg die RussischeRevolution und damit ging Russland für gut sieben Jahrzehnte historisch andere Wege. Und im 21. Jahrhundert stehen jene Momente, als zweiFlugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York rasten, als markanter Startpunkt für neue Bedrohungspotenziale und neue Formen von Kriegen. Der 11. September 2001 wird von den Amerikanern kurz „9/11“ genannt und hat sich so ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Man könnte die Weltgeschichte durchaus so einteilen, dass am 14. Juli 1789 das „lange 19. Jahrhundert“ begann, um am 9. November 1918 vom „kurzen 20. Jahrhundert“ abgelöst zu werden. Dieses reicht dann bis zum 9. November 1989, gefolgt von einer kurzen „Sattelzeit“ bis zum 11. September 2001, jenem Tag, an dem das 21. Jahrhundert startet.
Aber hinter diesen konkreten Daten stehen jeweils längere Prozesse. Es gibt Vorgeschichten und vor allem Wirkungsgeschichten, und die entstandenen Änderungen werden oft erst retrospektiv erkannt. Niemand ahnte etwa am 14. Juli 1789, dass er Augenzeuge eines welthistorischen Wendepunktes geworden war.
Ein gänzlich neues Kapitel in der Geschichte
Das war allerdings 1989 doch anders. Als die Bilder von der Öffnung der Grenzen der DDR durch die Weltmedien gingen, war es weit über Deutschland hinaus klar, dass ein gänzlich neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen wurde. Die Pressekonferenz von Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, chaotisch abgehalten am 9. November, enthielt den Satz: „Und deshalb haben wir uns entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Auf die Nachfrage, ab wann das gelte, antwortete er: „… nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“
Das war politisch in der Staatsführung der DDR noch gar nicht koordiniert, aber die Massen setzten sich in Bewegung, der Fall der Berliner Mauer, die seit 1961 die Stadt geteilt hatte, begann. Der Prozess war nicht mehr umkehrbar.
So überraschend und spontan sich die Ereignisse des Abends am 9. November 1989 auch darstellen, so haben sie doch eine längere Vorgeschichte. Und sie sind auch Teil eines breiten Wandlungsprozesses in den Staaten Osteuropas. Und auch in Teilrepubliken der damaligen Sowjetunion war längst eine Aufbruchsstimmung vorhanden, der Wunsch nach Veränderung artikulierte sich eindrucksvoll.
In den Baltischen Staaten, damals Sowjetrepubliken, bildeten Menschen schon am 23. August 1989 eine über alle drei Staatenhinwegreichende Menschenkette von über 600 km Länge, die längste bekannte Menschenkette der Geschichte, um für Veränderung und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Schon zwei Jahre früher hatte man die „Singende Revolution“ gestartet, obwohl das Singen der verbotenen alten Hymnen noch mit einer möglichen Deportation nach Sibirien bedroht war.
In Polen hatten die ersten einigermaßen freien Wahlen schon am 4. Juni 1989 mit einem Sieg der Opposition geendet, und Ungarn war nicht mehr gewillt, den Eisernen Vorhang auf einen technisch neuen Zustand zu verbessern. Der Vorhang bekam die ersten Lücken, wie das „Paneuropäische Picknick“ am 19. August des Jahres beweisen sollte, das Hunderten Bürgern der DDR den Grenzübertritt nach Österreich ermöglichte.
Wie sehr sich der Wandlungsprozess aber beschleunigte und wie gravierend er die politische Landschaft verändern sollte, hat dann aber doch die meisten Menschen überrascht. Ich selbst war wenige Wochen vor dem Mauerfall auf einer Vortragsreise in Leipzig und Ostberlin. Die Studierenden wollten nicht über die Vorträge, sondern über die politische Lage diskutieren. Der hoch angesehene Leipziger Professor, der mich eingeladen hatte, fürchtete um die Zukunft seines Sohnes, denn es war gerade Montag und der junge Mann war mitten in den Montagsdemonstrationen, die letztlich das Regime stürzen sollten.
Meine eigene Wahrnehmung war ambivalent. Wohl hatte Michail Gorbatschow, der sowjetische Staats- und Parteichef, deutlich gemacht, keine Gewalt zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung anwenden zu wollen, aber zu sehr stand uns die Erfahrung vom August 1968 in Prag vor Augen, um vagen Zusagen zu trauen. Und die Stasi schien noch allgegenwärtig und durchaus mächtig. Ich muss also gestehen, die Rasanz der Entwicklung trotz der damaligen räumlichen Nähe nicht erkannt zu haben.
Der Fall der Berliner Mauer ist eigentlich nur einer von mehreren wichtigen Schritten auf dem Weg in eine neue Zeit. Aber das Ereignis hatte die höchste Symbolkraft. Seit der Errichtung der Mauer, besonders aber seit US-Präsident John F. Kennedys Besuch und seinem „Ich bin ein Berliner“-Ausspruch im Jahr 1963 war die Teilung Berlins weltweit der Inbegriff der Teilung der Welt, vielleicht sogar stärker beachtet als die Teilung Koreas.
Die Wirkungsgeschichte dieses Ereignisses ist gewaltig. In der Tschechoslowakei vollzog sich die „Samtene Revolution“ und brachte mit Václav Havel eine Symbolfigur an die Staatsspitze. Die anderen osteuropäischen Staaten folgten, und nur in Rumänien wurde es ein blutiger Putsch, ausgeführt vom Geheimdienst. Die Hinrichtung des Diktators Nicolae Ceauçescuund dessen Frau zu Weihnachten 1989, weltweit im Fernsehen zu verfolgen, muss als statistischer Ausreißer in diesen gewaltfreien Änderungsprozessen angesehen werden.
Auch die Sowjetunion selbst zerfiel, wobei mehrfach Gewalt eingesetzt wurde, um den Prozess zu stoppen. Letztlich aber erlangten die Baltischen Staaten, die Staaten am Kaukasus und die Staaten Zentralasiens ihre Unabhängigkeit.
Der Zerfall Jugoslawiens, der einige Jahre später Europa erschütterte und auch uns unmittelbar betraf, ist wohl nicht direkt als eine Folge von 1989 zu begreifen.
Historische Gedächtnisorte können ganz konkrete Orte, also Schauplätze von Ereignissen, sein. Aber auch symbolisch aufgeladene Daten sind solche Gedächtnisorte. Und da stehen für den 9. November sowohl Zeit als auch Ort. Die Bilder vom Überklettern der Berliner Mauer und von den Menschenströmen, die sich nach Westberlin ergossen, sind heute Ikonen. Bruchstücke der Mauer sind begehrte Souvenirs. Mit dem 9. November 1989 war aber vor allem ein weltpolitischer „Point of no Return“ erreicht.
Helmut Konrad