Samstagnacht auf der Warschauer Straße an der Nahtstelle zwischen den Stadtteilen Friedrichshain und Kreuzberg. Der eisige Ostwind pfeift ohne Unterlass um backsteinerne Häuserecken und lässt Tausende Partywütige auf dem Weg Richtung Spree frösteln. Schön ist anders. Und dennoch. Es drängt und schiebt wie an einem Nachmittag auf dem Kurfürstendamm, nur dass der Himmel schwarz ist. Unzählige Clubs wie das Watergate oder Cassiopeia auf der einen, Berghain oder Kitkatklub auf der anderen Seite der Spree ziehen an und lassen abprallen, wenn der DJ einem nicht passt oder man selbst dem Türsteher nicht.
In Berlin hat der Samstag ein Alleinstellungsmerkmal. Er heißt Sonnabend. Nicht nur, aber auch weil der Tag gern spät beginnt und nahtlos in den Sonntag gleiten kann. Das galt in den Goldenen Zwanzigern mit ihrer Zügellosigkeit ebenso wie später in den Mauerzeiten mit der fehlenden Sperrstunde im Westen. Und es gilt bis heute.
Immer schon zog Berlin Vergnügungssüchtige an. Die geistige Grenzenlosigkeit der eingemauerten Stadt hat sich bruchlos in die Postmauerära übertragen. Das ist das verbindende Element über die Wendezeit hinweg. Alles andere? Im steten Wandel. Berlin ist die Hauptstadt der Unfertigkeit und auf der ewigen Suche nach sich selbst.
Aber ist Berlin wirklich nur eine Spaß- und Partymetropole? Ein Mekka für Rucksacktouristen und jugendliche Billigtouristengruppen, die die Stadt zur Partyhölle machen? Ein Dorado für Freigeister, Kreative, Tunichtgute, Tagediebe, Lebeleute und Subkulturelle?
Ein Magnet für Unangepasste
Ja, Berlin war schon immer ein Magnet für Unangepasste. Das hat viel mit der Geschichte zu tun. Dem preußischen Drill stand das geistige Laissez-faire von König Friedrich II. gleichsam gegenüber. Jede Form von Rassen-, Kultur- und Religionshass ist explizit von ihm zurückgewiesen worden. Es ist friderizianisch, als Bürger seine Steuern zu bezahlen und den Nachbarn in Ruhe zu lassen. Es ist ein Gründungsmythos für diese Stadt. Nur a bisserl gehorchen sollte er, der Berliner. Schon der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm ließ die Hugenotten gewähren, jene protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, die heute in x-ter Generation oft die überassimilierten Preußen sind mit ihrem Sinn für das Gerade und Genaue.
Seither sind zahlreiche Generationen von Fremden dazugekommen und haben Berlin zu einem Schmelztiegel gemacht. In der Mauerzeit lebten in West-Berlin die alten Kriegerwitwen neben den Antimilitaristen – die den Wohnsitz ihrer Tante in der Stadt nutzen, um in der wehrdienstfreien Alliiertenstadt dem Pflichtdienst zu entkommen – übrigens nicht immer friktionsfrei.
Ein Schmelztiegel
Nach 1989 mischen sie sich mit den linientreuen Kommunisten der DDR-Hauptstadt, später kamen mit der Hauptstadtfunktion die Bayern, Schwaben und Rheinländer, die aus der ehemaligen Bundesstadt Bonn hinzuzogen. Die vielen Expats, Studierenden, Künstler und Sinnsuchenden folgten. Der alte Berliner – und der Autor spricht mit fünf Generationen in Berlin aus Erfahrung – schaute gelassen zu.
Viele Schauspieler wurden gefragt, warum sie so gern in Berlin seien. Weil der Berliner sie ignoriert, niemand schert sich um sie. Berlin ist sich selbst genug.
Aber die Stadt ist doch dreckig, werfen Neuberliner ein. Ja, Berlin ist dreckig, laut, arm, gefährlich, billig, hektisch und hart. Aber Berlin ist auch grell, bunt, laut, bezaubernd und grün in den Randbezirken, reich bei den Villen im Grunewald. Kanzlerin Angela Merkel kann in Ruhe in ihrem Supermarkt in Mitte einkaufen gehen, weil sich niemand um sie drängt.
Zugezogene arbeiten sich an der Stadt ab
An der Stadt arbeiten sich vor allem die ab, die nicht in der Stadt geboren wurden. Die anderen tun einfach, was sie wollen – oder auch nicht. Es gibt viele Menschen, die kaum aus ihrem Kiez herauskommen. Aber dort fühlen sie sich wohl und bringen sich ein. Berliner Laissez-faire bedeutet seit jeher auch Selbstverantwortung.
Berlin gab es schließlich bis 1920 in dieser Form nicht. Damals schlossen sich rund 90 Gemeinden und Städte zusammen und bildeten die flächenmäßig zweitgrößte Stadt der Welt nach Los Angeles und die bevölkerungsmäßig drittgrößte nach New York und London. Der Slogan „Berlin ist een Dorf“ ist also keine Koketterie, sondern Realität. Neuberliner verstehen das bis heute kaum und dennoch wirkt es nach. In den Randbezirken sind echte Berliner noch immer in der Mehrheit. Beim Zusammenschluss nach der Wende kamen also Pankower und Köpenicker im Osten mit Spandauern und Zehlendorfern im Westen zusammen und bildeten dennoch keine Einheit.
Berlin Kiezdenken trifft schwäbische Kleinbürgerlichkeit
Die verhasste Kleinbürgerlichkeit der Schwaben traf auf das Kiezdenken der Berliner und war doch eine Ankunft in der großen weiten Welt. David Bowie hat die Stadt geprägt, der Techno wurde hier erfunden, Drogen gab es an jeder Ecke und John F. Kennedy gab das Motto vor: „Ich bin ein Berliner“ und meinte doch: „Wir sind alle Menschen einer freien Welt.“ Der Dreck und das Aufregende einer Weltstadt, verwahrloste Gehwege und das Glitzern der weltberühmten Clubs, dies alles gehört zur selben Einstellung. „Is mir egal“ wurde sogar zu einem Werbeslogan der Verkehrsbetriebe der Stadt. Es ist eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn.
Berlin hat in der Vergangenheit viele Vergleiche verloren, sie war nicht einmal die einzige geteilte Stadt der Welt. Aber sie stand eben immer im Rampenlicht, weil sich hier die Weltmächte gegenüberstanden. Andersherum versuchen vor allem Zugezogene den unangemessenen Stolz zu erklären. Und der Berliner? Nimmt es mit großmütiger Gelassenheit nicht einmal zur Kenntnis.
Berlin hat sich verändert - und auch nicht
Hat sich Berlin also verändert seit 1989? Ja und nein. Berlin ist nicht hässlicher und lauter geworden. Das war die Stadt schon immer. Vielleicht ein wenig unübersichtlicher und vielschichtiger. Aber immer noch mit einer unglaublichen Provinzialität, auch in der Politik. Aber wer macht die besten Witze über den Flughafen, der nie fertig wird? Richtig. Kennste den schon ...? Es gibt übrigens Wetten, was zuerst vollendet wird: der BER oder der Brexit.
Das Gegenstück zum Lob der Österreicher: „Nicht geschimpft ist genug gelobt“ lautet hier: „Kannste nich meckern.“ In Berlin wird übrigens gern gemeckert. So wie in Wien. Das liegt vielleicht am Hauptstadt-Gen. Berlin jedenfalls hat immer etwas aus seinem Schicksal gemacht. Aus den Trümmern der Reichshauptstadt aufgestanden, die Blockade der Sowjets überlebt, die Teilung überwunden, zur Hauptstadt geworden und nun die Horden aus den Billigfliegern bewirtet. Berlin ist in den vergangenen sechs Jahren um 300.000 Menschen angewachsen. Wie viele Einwohner noch einmal Bonn? Ach ja, genau, 300.000.
Der beste Berliner Fußballverein wirbt seit Kurzem mit dem Slogan: „Du denkst, Berlin ist hart? Wir sind Hertha.“ Es beweist: Schlechte Witze über die Stadt können wir noch selbst am besten.
Ingo Hasewend aus Berlin