Herr Segev, wir erreichen Sie daheim in Jerusalem. Wie erleben Sie diese dramatischen Tage und Stunden?
TOM SEGEV: Ich selber bin nicht in Gefahr. Ich habe einen kleinen Luftschutzkeller neben meiner Wohnung. Dort war ich schon zwei- oder dreimal, als die Sirenen aufheulten. Das ist aber sehr selten, weil die Hamas Jerusalem nicht wirklich attackiert. Sie fürchtet, ihre Raketen könnten Moscheen treffen, allen voran den Felsendom. Und dann gibt es ja sehr viele Muslime in Jerusalem. Meine Kinder leben dagegen nur 40 Kilometer von Gaza entfernt, die sind alle paar Minuten im Schutzraum. Persönlich bin ich schockiert, verwirrt und deprimiert. Alle Leute erwarten von mir eine tiefschürfende historische Analyse. Aber ich habe nichts Kluges zu sagen.
Was macht Sie sprachlos?
Wie konnte das passieren? Alle sprechen jetzt davon, dass wir diesen Krieg gewinnen werden. Aber niemand sagt: Was heißt Sieg in diesem Krieg? Darüber lässt uns die Regierung im Unklaren. Die sagen: "Wir werden die Hamas auslöschen." Aber was wird dann in Gaza? Dort leben zwei Millionen Menschen, die gehören nicht alle zur Hamas. Schon jetzt gibt es 300.000 Flüchtlinge. Und sollte es tatsächlich gelingen, die Hamas zu eliminieren, was folgt ihr nach? Das Allerwichtigste sind aber die Geiseln. Über hundert Personen wurden nach Gaza verschleppt, die meisten davon Zivilisten, Frauen, Kinder, ältere Leute, auch Holocaustüberlebende. Was wird aus ihnen? Mein Eindruck ist, dass die Regierung mehr militärisch denkt.
Es werden immer mehr schreckliche Details über das Wüten der Hamas-Brigaden bekannt. Hätten Sie so etwas für möglich gehalten?
Hätte ich mich mehr für die Ideologie der Hamas interessiert, dann wäre mir vielleicht ihre Nähe zum IS bewusst gewesen. Die haben ganze Familien ermordet, Kinder erschossen, die Leute in ihren Häusern verbrannt. Das ist singulär in der Geschichte des Terrorismus, ein Ereignis wie 9/11, ja viel schlimmer, wenn man die Zahlen im Verhältnis zur Bevölkerung hochrechnet. Und es ist nicht vorbei. Die Raketen der Hamas hageln weiter auf uns herab. In Sderot, einer Stadt im Süden, ist der Beschuss so stark, dass der Bürgermeister die Evakuierung aller 30.000 Einwohner fordert.
Was macht der Terror mit dem Land, den Menschen?
Israel steht unter Schock. Jeder fragt sich, wie das Militär und die Geheimdienste so unvorbereitet sein konnten. Seit Jahren bekommen wir zu hören, wie großartig wir doch sind. Wir sind eine Hightech-Supermacht, wir können jedes Telefongespräch in Gaza abhören. Und wir haben diese riesige Mauer an der Grenze zum Gazastreifen errichtet. Die hat eine Milliarde Euro gekostet oder mehr. Und die Hamasniks schieben sie mit einem kleinen Bulldozer einfach zur Seite. Das ist unfassbar! Das kann ich nicht verstehen. Das kann niemand verstehen. Ich glaube, der 7. Oktober 2023 wird Israels kollektive Identität neu formatieren.
Was genau ist da zerbrochen?
Die Idee, dass wir eine funktionierende Regierung haben. Es hat an manchen Orten zwölf Stunden gedauert, bis die Armee in die Kibbuzim gekommen ist, um die Leute zu befreien. Seit der Gründung des Staates Israel 1948 wurden an keinem Tag so viele Juden ermordet. Mehr als 1000. Innerhalb von Minuten. Das lässt Erinnerungen an den Holocaust wach werden. Wohin das alles führen wird, weiß ich nicht. Aber wenn vielleicht doch noch etwas Gutes herauskommt, dann, dass es das Ende von Netanjahu und seiner Regierung ist. Es würde mich sehr wundern, wenn er diesen Krieg als Premier politisch überlebt.
Was ist in Ihren Augen sein Anteil an der Katastrophe?
Das Verbrechen ist so monströs, dass man niemandem anderen als der Hamas die Schuld daran geben möchte. Aber Netanjahu hat als Staatsmann versagt. Er war es, der die ganzen Jahre über Israels Palästinenserpolitik geprägt hat. Er ist schuld daran, dass die Hamas überhaupt in Gaza sitzt. Es war seine Idee, die verzankten Palästinenser aufeinanderzuhetzen. Doch mit den Jahren ist die Hamas immer stärker geworden. Wien hat keine Raketen, oder? In Gaza gehören sie zum städtischen Service. Netanjahus ganzer Stolz ruhte auf dieser Mauer und der Illusion, dass Israel alles im Griff habe. Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wurde mit der Zeit immer schlimmer. Doch seit Jahren kann man einen ganzen Abend mit Freunden verbringen, ohne dass das mit nur einem Wort zur Sprache kommt. Das hat Netanjahu fertiggebracht. Zuletzt haben er und seine rassistischen, antidemokratischen Koalitionspartner, von denen er abhängig ist, das Land in einen Streit um sogenannte Justizreformen gestürzt, der in Wahrheit eine Auseinandersetzung um gesellschaftliche Grundwerte ist.
Manche erinnern die aktuellen Ereignisse an den Yom-Kippur-Krieg, der Israel 1973 auch wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ist der Vergleich zulässig?
Die Wucht, die Unvorbereitetheit sind ähnlich. In den vergangenen Tagen habe ich oft an Golda Meir denken müssen. Dass der Krieg 1973 Israel überrumpelte, war auch ihre Schuld. Der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat hatte davor monatelang die Fühler ausgestreckt. Aber die Ministerpräsidentin verabsäumte es, den Krieg zu vermeiden. Während der Kämpfe hat sie sich dann bewährt. Trotzdem hat sie später ihr Amt verloren. Mir fällt aber auch der Unabhängigkeitskrieg 1948 ein. Zum ersten Mal seither haben arabische Kämpfer wieder israelische Orte erobert. Das war undenkbar und beschäftigt mich auch persönlich. Denn in diesem ersten Krieg 1948 ist mein Vater umgekommen. Da war ich drei Jahre alt. Der Konflikt verfolgt mich also schon mein ganzes Leben lang.
Wollten Sie nie weggehen?
Nein. So unerträglich das Land mir oft war, so sehr hat das Schöne letztlich doch überwogen, die Menschen, die Familie, die Sprache. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn meine Eltern nach 1945 nach Deutschland zurückgekehrt wären. Aber dann hätte ich nicht in Äthiopien den kleinen Buben gefunden, den ich später adoptiert habe. In einer Strohhütte geboren ist er heute Elektroingenieur. Er und die Enkel bereiten mir viel Freude.
Plötzlich wirkt Israel geeint. Gibt Ihnen das Kraft und Trost?
In Kriegszeiten sind immer alle sehr patriotisch. Die Kampfpiloten, die gegen Netanjahu protestierten, haben sich sofort zu den Waffen gemeldet. Und Leute, die im Supermarkt sonst vor der Kasse streiten, wer zuerst da war, sagen jetzt vor den leeren Brotregalen: "Ich habe zwei Laibe. Da, nimm einen!" Mein Sohn hat das gerade erlebt. Das sind Kitschgeschichten. Aber es gibt halt viel Kitsch, der wahr ist.
Was sagen Ihre palästinensischen Freunde zu alledem?
Ich habe keine palästinensischen Freunde. Das ist typisch für Israel. Sehr wenige Israelis haben palästinensische Freunde und sehr wenig Palästinenser haben israelische Freunde.
Ist die Zweistaatenlösung tot?
Seit vielen Jahren. Sie ist eine diplomatische Fiktion, die sich fast alle Länder angeeignet haben, weil sie sehr bequem ist.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Welt ist voll von Menschen, die genau wissen, wie man diesen Konflikt lösen muss. Ich habe keine Ahnung. Aber ich habe mich in so gut wie allen meinen Voraussagen geirrt, mein ganzes Leben lang. So viele Male war ich optimistisch. Vielleicht liege ich jetzt ja mit meinem Pessimismus falsch.