Nach dem Evakuierungsaufruf der israelischen Armee haben sich deren Angaben zufolge Hunderttausende im Gazastreifen auf den Weg Richtung Süden gemacht. "Wir sind uns im Klaren, dass dies Zeit brauchen wird", sagte Militärsprecher Richard Hecht am Samstag. Die Hamas versuche auch, die Zivilisten aufzuhalten. Das israelische Militär hatte zuvor den Einwohnern des nördlichen Gazastreifens auch am Samstag wieder einen Zeitraum und eine Fluchtroute ohne Angriffe zugesichert.
Aufforderung zur Evakuierung
Beobachter gehen davon aus, dass das israelische Militär die mehr als eine Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens zur Evakuierung in den Süden des Gazastreifens aufgefordert hat, weil eine Bodenoffensive bevorsteht. Seit dem beispiellosen Massaker an israelischen Zivilisten durch Terroristen im Auftrag der Hamas in Grenzorten und auf einem Musikfestival fliegt das israelische Militär massive Luftangriffe auf Ziele in dem dicht besiedelten Küstenstreifen.
Unterdessen tötete das israelische Militär bei Angriffen auf Einsatzzentralen der islamistischen Hamas im Gazastreifen einen der mutmaßlich Verantwortlichen des Massakers an israelischen Zivilisten. Merad Abu Merad, Leiter des Hamas-Luftüberwachungssystems in Gaza-Stadt, sei maßgeblich für die Steuerung der Terroristen während des Massakers verantwortlich gewesen, teilte das israelische Militär Samstag früh mit. Auch Ali Kadi, der als Kommandant einer Eliteeinheit den Überfall bewaffneter Kämpfer auf Ortschaften im Süden Israels vor einer Woche angeführt hatte, sei bei einem Luftangriff getötet worden, teilte die Armee am Samstag mit.
Die Zahl der bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist auf 2.215 gestiegen. Zudem seien 8.714 Menschen verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am Samstag mit.
Nach Angaben des bewaffneten Teils der Hamas sind bei israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen in den vergangenen 24 Stunden auch neun Geiseln ums Leben gekommen. Darunter seien auch vier Ausländer, teilen die Al-Qassam-Brigaden auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit.
Nächtliche Luftangriffe
Terroristen hatten vor genau einer Woche im Auftrag der Hamas ein Massaker unter israelischen Zivilisten in Grenzorten und auf einem Musikfestival angerichtet - das schlimmste seit Israels Staatsgründung. Mehr als 1.300 Menschen kamen dabei ums Leben. Darunter seien auch mindestens 265 israelische Soldaten, teilte Militärsprecher Richard Hecht am Samstag mit. Die weitaus meisten der bei den Großangriffen getöteten Menschen sind demnach Zivilisten. Bei 120 Menschen gelte als gesichert, dass sie in den Gazastreifen verschleppt worden sind, sagte Hecht.
Israelische Kampfflugzeuge hätten in der Nacht Dutzende Hamas-Ziele im gesamten Gazastreifen angegriffen und dabei "Nukhba"-Terroristen getroffen, die sich in einem Aufmarschgebiet der Küstenenklave aufhielten, hieß es. Die "Nukhba"-Terroristen gehörten zu den Kräften, die das Eindringen nach Israel anführten. Israel antwortet seitdem mit massiven Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen. Als nächster Schritt könnte eine Bodenoffensive folgen.
Unterdessen tötete das israelische Militär nach eigenen Angaben mutmaßliche Terroristen beim versuchten Eindringen vom Libanon aus nach Israel. Wie das israelische Militär am Samstagmorgen bekannt gab, hätten Soldaten eine "Terrorzelle" identifiziert, die versucht habe, vom Libanon aus in israelisches Gebiet einzudringen. Eine Drohne des Militärs habe "einige der Terroristen" getötet, hieß es. Seit dem Terror-Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel vom vergangenen Wochenende kam es an Israels Grenze zum Libanon im Norden immer wieder zu Kampfhandlungen mit der Hisbollah-Miliz.
Das israelische Militär sicherte indes den Einwohnern des nördlichen Gazastreifens auch am Samstag wieder einen Zeitraum ohne Angriffe zu, um sich in den Süden der Küstenenklave zu begeben. Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr Ortszeit (09.00 bis 15.00 Uhr MESZ) sollten die Bewohner von Beit Hanun auf einer eingezeichneten Fluchtroute nach Khan Yunis gehen, wie ein Sprecher der Armee in arabischer Sprache auf der Plattform X (früher Twitter) mitteilte.
Menschlicher Schutzschild
Die Armee vermutet Mitglieder der Hamas in Tunneln unterhalb der Häuser und auch in Wohngebäuden der Menschen. Der Aufruf zur Evakuierung sei auf verschiedenen Wegen verschickt worden. Das israelische Militär warf der Hamas vor, zu versuchen, die Bevölkerung daran zu hindern, sich in Sicherheit zu bringen, und sie als "menschlichen Schutzschild" zu missbrauchen.
An Israels Aufforderung zur Massenevakuierung gibt es viel Kritik. Die Vereinten Nationen forderten Israel bereits am Freitag auf, die Anweisung zu widerrufen. Es drohe eine "katastrophale Situation". Auch aus Saudi-Arabien und Ägypten gab es scharfe Kritik. Beobachter gehen davon aus, dass das israelische Militär die mehr als eine Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens zur Evakuierung aufgefordert hat, weil eine Bodenoffensive bevorsteht.
Das UNO-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA) teilte mit, dass bereits vor der Aufforderung zur Evakuierung insgesamt bereits 400.000 Palästinenser wegen des Konflikts vertrieben worden seien. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnet die Flucht von Zivilisten aus Gaza-Stadt in Richtung Süden als "extrem gefährlich". UN-Sprecher Stephane Dujarric sagte dazu: "Zivilisten müssen geschützt werden. Wir wollen keinen Massenexodus von Gaza-Bewohnern erleben."
Warnung von Jordaniens Außenminister
Bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen sind nach Angaben der UNO bereits mehr als 1300 Gebäude komplett zerstört worden. Davon betroffen seien 5.540 Wohneinheiten.
Jordaniens Außenminister Ayman Safadi warnte, jeder Schritt Israels mit der Folge einer Vertreibung von Palästinensern im Gazastreifen führe die Nahost-Region an den Abgrund eines größeren Konflikts. Safadi bezeichnet es zudem als eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, dass Israel humanitäre Hilfe für den Gazastreifen blockiere.
Für Palästinenser erinnert die Vorstellung, das Land zu verlassen oder vertrieben zu werden, auf dem sie einen Staat gründen wollen, an die "Nakba" oder "Katastrophe", als viele Palästinenser während des Krieges von 1948, der mit der Gründung Israels einherging, ihre Häuser verließen. Etwa 700.000 Palästinenser, die Hälfte der arabischen Bevölkerung des von Großbritannien regierten Palästina, flohen damals oder wurden aus ihren Häusern vertrieben, viele strömten in benachbarte arabische Staaten, wo sie oder viele ihrer Nachkommen geblieben sind. Viele leben noch immer in Flüchtlingslagern.
Ein Flugzeug mit medizinischen Hilfsgütern zur Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen ist nach Angaben vom Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, auf einem Flughafen im Nordosten Ägyptens in der Nähe des Grenzübergangs Rafah gelandet. "Wir sind bereit, die Hilfsgüter zu verteilen, sobald ein humanitärer Zugang über den Übergang gewährleitet ist", schrieb er auf der Social-Media-Platform X.
Die USA riefen ihre Bürger im Gazastreifen auf, zum Grenzübergang Rafah im Süden zu gehen. Sie sollten sich bereithalten, dort nach Ägypten auszureisen, teilt das US-Außenministerium mit. Es könne sein, dass der Grenzübergang Rafah sehr kurzfristig und nur für eine begrenzte Zeit für Ausländer geöffnet werde. Möglicherweise werde eine solche Öffnung nur in geringem Umfang bekanntgeben. Zugleich teilt das US-Außenministerium mit, dass wegen der unvorhersehbaren Sicherheitslage nicht zwingend benötigtes Personal der US-Botschaft und der Zweigstelle in Tel Aviv Israel verlassen darf. Dies betreffe auch Familienangehörige des Botschaftspersonals.