Israel hat in der Nacht seine Vergeltungsangriffe im gesamten Gazastreifen fortgesetzt. Die israelische Armee erklärte am Mittwoch, ihre Kampfflugzeuge hätten in der Nacht mehr als 200 Ziele in einem Viertel von Gaza-Stadt getroffen, das die Hamas am Samstag für ihre Angriffswelle genutzt hatte. Zwei hochrangige Hamas-Mitglieder, Jawad Abu Shammala und Zakaria Abu Maamar, seien zudem bei einem Luftangriff in Khan Younis ums Leben gekommen, sagte ein Hamas-Vertreter.
Es sind die ersten hochrangigen Hamas-Angehörigen, die seit Beginn der israelischen Luftangriffe auf die Enklave getötet wurden. Israel erklärte, Abu Shammala habe eine Reihe von Operationen geleitet, die sich gegen israelische Zivilisten richteten. Hamas-nahe Medien berichteten weiter, eines der zerstörten Häuser gehöre dem Vater von Mohammed Deif, dem Anführer der Kassam-Brigaden, des bewaffneten Flügels der Hamas. Deifs Bruder und weitere Familienmitglieder seien getötet worden.
Radarsystem der Hamas zerstört
Die israelische Luftwaffe hat bei ihren Angriffen im Gazastreifen nach eigenen Angaben auch ein Radarsystem der Hamas zerstört. "Kampfjets haben ein fortschrittliches Radarsystem zerstört, das die Terrororganisation Hamas entwickelt hat und das zur Erkennung von Flugkörpern über dem Gazastreifen diente", hieß es in einem X-Post der Armee. Die Hamas habe über Jahre ein hochwertiges Kameranetz entwickelt, das in Wasserbehältern auf Dächern versteckt über den ganzen Gazastreifen verteilt worden sei.
Am Dienstag sei dieses Netz binnen weniger Minuten mit Angriffen auf verschiedene Ziele zerstört worden. Damit habe man der Hamas die Fähigkeit genommen, "ein breites Bild des Himmels zu erstellen, mit dem Ziel, Flugkörper anzugreifen", hieß es in der Mitteilung. Es seien alle Signalerkennungsgeräte des Systems angegriffen worden.
1200 Tote in Israel
Die Zahl der Toten in Israel durch die Hamas-Großangriffe ist nach Armeeangaben auf mehr als 1.200 gestiegen. Mindestens 3.000 weitere seien verletzt worden. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Die Zahl der bei israelischen Gegenangriffen Israels im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist am Mittwoch auf mindestens 950 gestiegen. Rund 5000 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium in Gaza mit.
Die Hamas, die von den USA, der EU und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, hatte am Samstag bei einem Großangriff auf das Grenzgebiet das schlimmste Blutbad unter Zivilisten seit der israelischen Staatsgründung angerichtet. Die Terroristen drangen am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) in Orte ein und suchten in den Häusern nach Opfern. Dabei erschossen sie Männer, Frauen und Kinder und verschleppten andere in den Gazastreifen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu schwor am Sonntag "Rache".
"Einmarsch möglich"
Oberst Berthold Sandtner von der Landesverteidigungsakademie hält einen Einmarsch Israels in den Gazastreifen jederzeit für möglich. Es seien bereits alle Voraussetzungen dafür geschaffen, sagte er in der "ZiB2" des ORF am Dienstagabend. "Offensichtlich fehlt noch die politische Freigabe dazu." Sandtner erwartet, dass Israel nun "mit dem Vorschlaghammer" vorgehen wird. Er erinnerte auch daran, dass Israel angekündigt hat, diesmal "die Hamas in den Grundfesten erschüttern und ausrotten" zu wollen.
US-Präsident Joe Biden sagte dem Verbündeten die Unterstützung der Supermacht zu. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ermahnte Israel, sich an das Völkerrecht zu halten. Der palästinensische Gesandte bei den Vereinten Nationen bezeichnete die israelische Bombardierung des Gazastreifens und die vollständige Blockade der von der radikalen Palästinenserorganisation Hamas kontrollierten palästinensischen Enklave als "nichts weniger als Völkermord". "Diese eklatante Entmenschlichung und die Versuche, ein Volk in die Unterwerfung zu bomben, Hunger als Methode der Kriegsführung einzusetzen und seine nationale Existenz auszulöschen, sind nichts weniger als Völkermord", schreibt der palästinensische UNO-Gesandte Riyad Mansour in einem Brief an den UNO-Sicherheitsrat, den die Nachrichtenagentur Reuters einsehen konnte. "Das sind Kriegsverbrechen."
Hacktivisten gegen Israel aktiv
Politisch motivierte Hacker - sogenannte Hacktivisten - nehmen nach eigenen Angaben gezielt israelische Internetseiten ins Visier. "Die Angreifer haben es geschafft, uns in den vergangenen Tagen für längere Zeit vom Netz zu nehmen", sagte der Chefredakteur der Zeitung "Jerusalem Post", Avi Mayer, am Dienstag. "Das ist ein eklatanter Angriff auf die Pressefreiheit." Mehr als 100 Websites in Israel wurden entweder verunstaltet oder durch einfache Distributed-Denial-of-Service-Angriffe (DDoS), bei denen eine Website mit einer Flut gefälschter Daten überlastet wird, vorübergehend gestört, erklärten Sicherheitsanalysten.
Neben anderen Vorfällen behauptete eine Gruppe von Hackern, die die Hamas unterstützen und als AnonGhost bekannt sind, auf ihrem Social-Media-Kanal, eine israelische Notfallalarm-App gestört zu haben. Eine andere Gruppe mit dem Namen AnonymousSudan erklärte über den Kurznachrichtendienst Telegram, sie ziele aktiv auf die kritische Infrastruktur Israels ab. Sie legte jedoch kaum Beweise für ihre Behauptungen vor. Das israelische Computer Emergency Response Team (CERT) reagierte zunächst nicht auf Anfragen nach einer Stellungnahme. Analysten gehen jedoch davon aus, dass erhebliche Cyberspionage-Aktivitäten stattfinden.
"Reines, unverfälschtes Böse"
Biden verurteilte in einer Fernsehansprache in scharfen Worten den Angriff der Hamas auf Israel. Das Land habe einen Moment des "reinen, unverfälschten Bösen" erlebt, sagte er. Er sagte weitere Unterstützung zu.
US-Außenminister Antony Blinken will nach dem Großangriff der Hamas neben Israel auch Jordanien besuchen. Er werde am Mittwoch aufbrechen, hieß es in einer Mitteilung des US-Außenministeriums am Dienstag. Zuvor hatte ein Sprecher gesagt, dass Blinken am Donnerstag in Israel eintreffen werde. Ziel der Reise in den Nahen Osten sei es, über die Stärkung der Sicherheit Israels zu sprechen und "die unerschütterliche Unterstützung der Vereinigten Staaten für das Recht Israels auf Selbstverteidigung zu unterstreichen".
Die USA haben einen Flugzeugträger in Richtung Israel entsandt. Zudem sprach die US-Regierung nach eigenen Angaben mit israelischen Vertretern über die Möglichkeit, einen sicheren Korridor für Zivilisten im Gazastreifen einzurichten. "Wir konzentrieren uns auf diese Frage", sagte der für die nationale Sicherheit zuständige Sprecher Jake Sullivan. Das israelische Militär hat nach eigenen Angaben erste Munition aus amerikanischen Beständen erhalten.
Demonstrationen für Israel
In New York demonstrierten am Dienstag Tausende für Israel. Der vorgesehene Platz in Sichtweite des UN-Gebäudes am East River füllte sich am Abend bis zu seiner Kapazitätsgrenze. Gouverneurin Kathy Hochul und Bürgermeister Eric Adams nahmen ebenfalls an der Demo teil und hielten Reden. New York hat mit weit über einer Million Menschen die größte jüdische Gemeinschaft der Welt.
Die USA sehen derzeit keine Hinweise auf eine direkte Beteiligung des Iran am Großangriff der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte am Dienstag, Teheran sei zwar bereits seit Jahren ein wichtiger Unterstützer der Hamas. "Aber in diesem konkreten Fall haben wir keinerlei Belege dafür, dass es eine direkte Beteiligung bei der Planung oder Ausführung dieses Angriffs gab."
Im Gazastreifen leben 2,3 Millionen Menschen. Den Vereinten Nationen zufolge sind mehr als 180.000 von ihnen inzwischen obdachlos. Israel hat 300.000 Reservisten einberufen, was Spekulationen über eine Bodenoffensive genährt hat. Zudem hat die Regierung angekündigt, den Gazastreifen komplett abzuriegeln. "Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, aber es muss im Einklang mit dem Völkerrecht, dem humanitären Recht stehen", sagte der EU-Außenbeauftragte Borrell. Mit Verweis auf die Abriegelung ergänzte er: "Einige Entscheidungen stehen im Widerspruch zum Völkerrecht."