Nach der Parlamentswahl in Polen bleiben die Nationalkonservativen laut Prognosen stärkste politische Kraft – dennoch könnten drei proeuropäische Oppositionsparteien die neue Regierung bilden. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kam auf 36,8 Prozent der Stimmen, wie am Sonntagabend Nachwahlbefragungen ergaben. Zweitstärkste Kraft mit 31,6 Prozent wurde demnach die oppositionelle liberalkonservative Bürgerkoalition (KO). Das Kräfteverhältnis im Parlament kann sich noch durch Nuancen von wenigen Prozentpunkten für kleinere Parteien verschieben. Erwartet wird eine langwierige Regierungsbildung.
Ein möglicher Machtwechsel in Warschau würde auch eine Wende in der polnischen Außenpolitik bringen. Die nationalkonservative PiS liegt wegen einer Justizreform im Dauerclinch mit Brüssel, das Verhältnis zu Berlin befindet sich wegen ihrer Forderungen nach Weltkriegsreparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro auf einem Tiefpunkt. Die drei Oppositionsparteien, die sich unter der Ägide von Tusk zusammentun könnten, stehen für einen proeuropäischen Kurs und eine versöhnlichere Politik gegenüber Deutschland.
Nach acht Jahren am Ziel
Oppositionsführer Donald Tusk sah sich am Abend daher schon als Sieger: "Ich habe mich noch nie so sehr über den zweiten Platz gefreut. Polen hat gewonnen, die Demokratie hat gewonnen, das ist das Ende der PiS-Regierung", sagte er am Wahlabend. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski sagte, man warte auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Im Wahlkampf musste er mit harten Bandagen kämpfen. Tusk war als Vorsitzender der oppositionellen Bürgerplattform (PO) der Hauptgegner der rechtsnationalistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die er ersten Prognosen zufolge nun nach acht Jahren von der Macht verdrängen kann. "Die Herrschaft der PiS ist vorbei", rief der 66-Jährige am Sonntagabend bei der Wahlparty seiner Partei in Warschau.
Den früheren EU-Ratspräsidenten Tusk und den PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski verbindet seit Jahren eine innige Feindschaft. Im Wahlkampf musste Tusk, der in seiner Jugend nach eigenen Worten als "Hooligan" durch die Straßen seiner Heimatstadt Danzig zog, seine Kämpferqualitäten unter Beweis stellen.
Tusk war vor zwei Jahren in die polnische Innenpolitik zurückgekehrt und hatte die Führung der Bürgerplattform, die er 2001 selbst mitgegründet hatte, übernommen. Zuvor musste der Historiker und eingefleischte Fußballfan als EU-Ratspräsident von 2014 bis 2019 zahlreiche Krisen bewältigen: von der Migration nach Europa über die griechische Finanzkrise bis hin zu den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien. Von 2019 bis 2022 war er Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP).
Inflation, Abtreibung, Visa
In den Online-Netzwerken hat Tusk die PiS im Wahlkampf hart angegriffen – vor allem wegen der zweistelligen Inflation, der Verschärfung des Abtreibungsrechts und zuletzt wegen einer Affäre um illegal vergebene Visa. Profitieren konnte Tusk auch von einer Krise in der Armee, die wenige Tage vor der Wahl durch den Rücktritt zweier ranghoher Militärs ausgelöst wurde.
Aber auch Tusk sah sich im Wahlkampf scharfer Kritik und persönlichen Angriffen der Regierungspartei ausgesetzt. PiS-Chef Kaczynski, der offiziell Vizeministerpräsident ist, de facto aber den Kurs der Regierung bestimmt, nannte ihn "die Personifizierung des Bösen". Die Regierungspartei, die mit ihrer Justizreform und ihrer Flüchtlingspolitik seit Langem auf Konfrontation zu Brüssel geht, versuchte im Wahlkampf, mit einem antideutschen Kurs zu punkten. Dabei stellte sie Tusk als eine Marionette Deutschlands dar und warf ihm zugleich vor, russische Interessen zu vertreten.
Russische Einflussnahme
Ende August setzte die PiS im Parlament die Gründung einer Untersuchungskommission zur "russischen Einflussnahme" durch. Kritiker werteten dies als Versuch, den Oppositionsführer vor der Parlamentswahl politisch kaltzustellen.
Kaczynski gibt Tusk außerdem die "moralische Verantwortung" für den Tod seines Zwillingsbruders Lech. Der damalige Staatschef war 2010 beim Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im russischen Smolensk ums Leben gekommen. Tusk war zum Zeitpunkt des Unglücks Ministerpräsident. Polnische und russische Experten kamen zu dem Schluss, die Hauptgründe für den Absturz seien ein Pilotenfehler und schlechtes Wetter gewesen. Seine konservativen Gegner warfen Tusks Regierung aber Nachlässigkeit bei der Vorbereitung der Reise zu einer Gedenkveranstaltung in Katyn sowie mangelnden Einsatz bei den Ermittlungen zu dem Unfall vor.
"Als Kind, als junger Mann war ich ein typischer Hooligan"
Das Kämpfen hat Tusk nach eigenen Angaben als Jugendlicher in seiner Heimatstadt Danzig gelernt. "Als Kind, als junger Mann war ich ein typischer Hooligan", sagte er vor einigen Jahren in einem Interview. Die Begeisterung für den Fußball hat sich Tusk bis heute bewahrt, seine kämpferische Energie steckte er aber schon als Student in die Politik, als er sich in der antikommunistischen Oppositionsbewegung engagierte.
Nach der demokratischen Wende 1989 gründete der studierte Historiker mit Freunden eine liberale Bewegung. 2001 folgte dann die Bürgerplattform. Nach der Wahl zum Regierungschef 2007 führte der liberalkonservative Politiker sein Land erfolgreich durch wirtschaftliche Krisen und setzte im Gegensatz zu anderen politischen Kräften Polens stets auf eine enge Partnerschaft mit Deutschland. Tusk, der mit seiner Frau Malgorzata zwei erwachsene Kinder hat, spricht auch Deutsch.
Vorstoß scheiterte
2011 wurde er als erster polnischer Ministerpräsident seit Ende des Kommunismus wiedergewählt. Drei Jahre später folgte der Wechsel nach Brüssel. Ihre Rivalität fochten Tusk und Kaczynski auch auf EU-Ebene aus, als die PiS-Regierung versuchte, Tusks Wiederwahl als EU-Ratspräsident zu verhindern. Der Vorstoß scheiterte aber.
Anfang Oktober mobilisierte Tusk in Warschau rund eine Million Regierungsgegner, nach Angaben seiner Anhänger war es die größte Demonstration aller Zeiten in der polnischen Hauptstadt. Bei der Wahl blieb die PiS laut einer Nachwahlbefragung nun zwar stärkste Kraft, zusammen mit zwei möglichen Bündnispartnern sicherte sich die Bürgerplattform aber eine Mehrheit im Parlament.
Anna Maria Jakubek/AFP