Um Migration, Wirtschaftsbeziehungen und die Lage in der Ukraine hätte es gehen sollen, wenn Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Dienstagnachmittag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan trifft. Einen möglichen Krieg in Israel hatte man bei der Planung des Besuches des österreichischen Regierungschefs in Ankara noch nicht auf dem Radar – nun dürfte die Eskalation im Nahen Osten in den Fokus rücken.
Die Lage in Israel sei nach dem palästinensischen Angriff jedenfalls "mehr als dramatisch", betonte der ÖVP-Chef vor Journalisten in Ankara. Auch Österreicherinnen und Österreicher sind von der Eskalation direkt betroffen: Derzeit gebe es rund 200 österreichische (Doppel-)Staatsbürger, die das krisengeschüttelte Land verlassen möchten. Am Mittwoch wird deshalb eine "Hercules"-Maschine des Bundesheeres nach Israel aufbrechen und Betroffene nach Zypern bringen, von wo aus diese mit zivilen Fluglinien weiterreisen können. Auch bestehe die Möglichkeit, dass österreichische Doppelstaatsbürger unter den Vermissten sind, bestätigt sei dies vorerst aber nicht, so der Bundeskanzler.
Beziehungen zwischen Israel und der Türkei haben sich verbessert
Vor allem gehe es nun darum, eine weitere Eskalation und einen "Flächenbrand" in der Region zu vermeiden. Die Türkei spiele hier als wichtiges, militärisch starkes Land in der Region eine entscheidende Rolle, betonte Nehammer. Und die Beziehungen zwischen dem muslimisch geprägten Land am Bosporus und Israel haben sich zuletzt verbessert: Als 2021 israelische Fahnen auf dem Dach des Bundeskanzleramtes gehisst wurden, reagierte die Türkei empört. Jetzt wehten als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse wieder blau-weiße Fahnen auf den Dächern von österreichischen Regierungsgebäuden – und das Treffen mit dem türkischen Staatsoberhaupt kann trotzdem wie geplant stattfinden.
Die Türkei versucht, sich aktuell als Vermittler zu positionieren. Sein Land sei entschlossen, seine diplomatischen Bemühungen in der Region zu verstärken, sagte Erdogan am Sonntag. In der Vergangenheit hatte die Türkei den Palästinensern den Rücken gestärkt – nun wolle Ankara aber zur Deeskalation beitragen. Erdogan appellierte an beide Seiten, eine Verschärfung des Konflikts zu vermeiden, und wiederholte die türkische Forderung nach einer Zweistaatenlösung.
80 Prozent der Asylanträge im Zusammenhang mit der Türkei
Das Thema Migration wird allerdings im Vordergrund stehen, wenn Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) am Dienstag seinen türkischen Amtskollegen Ali Yerlikaya zu einem Arbeitsgespräch trifft. Hier sei eine Zusammenarbeit mit der Türkei Pflicht, betonte der Minister. 80 Prozent aller in Österreich gestellten Asylanträge stünden in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Türkei: entweder, weil türkische Staatsangehörige selbst um Schutz ansuchen oder weil Menschen, etwa aus Syrien und Afghanistan, über die Türkei nach Europa weiterreisen.
Der 2016 geschlossene Migrationsdeal zwischen der Türkei und der EU "hält, aber funktioniert nicht perfekt", meinte Karner. Auch bei einem kürzlichen Treffen der EU-Innenminister sei man sich einig gewesen, dass man mit der Türkei "intensiver ins Gespräch kommen" müsse. Die Geflüchteten in der Türkei bräuchten jedenfalls eine Perspektive, damit sie auch im Land bleiben und von der Weiterreise nach Europa absehen würden, betonte Karner. Gefragt nach dem Ziel der Gespräche am Dienstag, blieb der Innenminister allerdings vage: "Wir werden sehen, was am Ende des Tages rauskommt."
Mit der Türkei "nicht auf Kuschelkurs"
Insgesamt strebe man eine "pragmatische Zusammenarbeit" mit der Türkei an, sagte Nehammer. Die Beziehungen hätten sich nach einem Tief um das Jahr 2016 zuletzt wieder deutlich verbessert, auf "Kuschelkurs" sei man dennoch nicht. Auch "unrealistische Zukunftsszenarien" wolle der Kanzler nicht in den Raum stellen, einen EU-Beitritt der Türkei sieht Nehammer etwa nach wie vor außer Reichweite.