Am Samstagabend saß ich mit meiner Frau und unseren zwei Hunden in unserem kleinen Schutzraum mit den dicken Mauern. Wir leben im Norden von Tel Aviv, rund 85 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, und in unserem Abschnitt hatten die Alarmsirenen aufgeheult. Wir hörten mehrere dumpfe Explosionen, vermutlich nicht von Einschlägen, sondern von den Geschossen des Abwehrsystems "Eiserne Kuppel", das die anfliegenden Raketen in der Luft abgefangen hatte. Nach zehn Minuten gingen wir wieder ins Wohnzimmer zurück.
Angriff auf Israel: Was bisher bekannt ist
Auf die Idee, Raketen auf israelische Ortschaften abzufeuern, sind radikale Palästinenser im Gazastreifen schon vor mehr als 20 Jahren gekommen. Seither hat der Raketenbeschuss in Schüben immer mehr Intensität und Reichweite bekommen. Im Süden Israels ist er, schon wegen der geringeren Distanz und mithin der kürzeren Vorwarnzeit, viel gefährlicher als im Zentrum. Und nein, es wäre absurd, zu sagen, dass man sich "daran gewöhnt" oder "damit abgefunden" hätte, aber man kennt das eben schon lange und weiß, wie man damit umgeht. Zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule hat man einen Schutzraum, im Freien presst man sich an eine Hausmauer oder legt sich flach hin, und es gibt eben die geniale "Eiserne Kuppel".
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Eine völlig neue Dimension hat der Konflikt zwischen Israel und der Hamas am Samstag also nicht wegen der noch nie da gewesenen Raketenfrequenz bekommen (mehr als 2000 Abschüsse in den ersten vier Stunden), sondern deswegen, weil es grob geschätzten 200 – vielleicht waren es noch deutlich mehr – bewaffneten Männern der dschihadistischen Palästinensergruppe gelungen ist, die Grenzbarriere an mehreren Punkten zu überwinden. Auf Kleinlastern und Motorrädern schwärmten sie im israelischen Staatsgebiet aus. Das allein hätte einen unglaublichen, vieles verändernden "militärischen" Erfolg dargestellt. Doch dann folgte etwas, was alle Regeln gebrochen hat. Die Hamas-"Kämpfer" stellten sich an Kreuzungen auf und schossen auf heranfahrende Autos. Sie verteilten sich auf gut 20 Dörfer und Gemeinden, schossen auf alles, was sich bewegte, gingen von Tür zu Tür und exekutierten Familien in ihren Wohnungen.
Durch die Nacht auf Samstag hatten rund 3000 junge Israelinnen und Israelis neben dem Kibbutz Re'im, sechs Kilometer vom Gazastreifen, bei einem Freiluftfestival getanzt und gesungen. Die Terroristen stießen auf sie und veranstalteten eine Treibjagd mit Dauerfeuer aus verschiedenen Richtungen. Kurz und klar: Die "Operation" der Hamas war ein systematisches, kaltblütiges, barbarisches Massaker an Zivilpersonen. Bis Sonntagabend wurden (einschließlich der bei Feuergefechten gefallenen Soldatinnen und Soldaten) in Israel 700 Tote bestätigt, und das war anscheinend noch nicht die endgültige Zahl. Beinahe ebenso verstörend wie der Massenmord und ebenfalls präzedenzlos ist der Umstand, dass Dutzende israelische Kinder, Frauen und Männer in den Gazastreifen verschleppt worden sind.
Wie konnte das passieren?
Das ist die Frage, die sich in Israel vom Laien bis zum Experten sofort alle stellten. Das Fiasko war ein doppeltes. Die Hamas muss diesen groß angelegten Überfall über Monate vorbereitet haben, doch Israels legendäre Nachrichtendienste, die angeblich jede Katze im Gazastreifen erkennen können, sahen ihn nicht kommen. Und nachdem der Überfall begonnen hatte, waren die in der Zone stationierten Truppen zu schwach, um die Hamas-Männer zu stoppen. Man hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass jemand auch nur versuchen würde, den mit Radarsystemen und Sensoren bestückten Grenzwall, dessen Errichtung dreieinhalb Jahre gedauert und eine Milliarde Euro gekostet hatte, zu durchstoßen – und dann ging das ganz leicht.
Doch nach den Fehlern und den Schuldigen wird man erst viel später suchen können. Prioritäres Ziel der Armee war und ist es, die komplette Kontrolle über die Dörfer in Südisrael wiederzugewinnen – sprich, alle eingedrungenen Hamas-Männer zu stellen und auszuschalten und alle verschanzten oder als Geiseln festgehaltenen Bürgerinnen und Bürger herauszuholen. Das war bis Sonntagabend noch nicht vollbracht, es gab immer noch an einzelnen Punkten Feuergefechte und Belagerungssituationen. Das Nächste wird ein gewaltiger Vergeltungsschlag sein, zu dem Israel offenbar gerade ausholt. Auch Experten, die als zurückhaltend gelten, sagen jetzt, dass es keine andere Lösung gebe, als die Hamas völlig zu zerschlagen. Ob und wie das geschehen kann, ist unklar. Dazu wäre der Einmarsch von Bodentruppen nötig, was zu langen, blutigen Gefechten führen würde. Und was ist, wenn die Hamas mit der Hinrichtung der Geiseln droht? Wenn die libanesische Hisbollah-Miliz aus dem Norden mit Raketensalven angreift? Wenn die Palästinenser im Westjordanland unruhig werden?
In Israel scheint jetzt die grimmige Einstellung vorzuherrschen, dass man auf all das keine Rücksicht nehmen kann. Man kämpfe ums Überleben, so hört man immer wieder, und müsse jetzt den Gazastreifen unter der Hamas wie einen feindlichen Staat behandeln, mit dem man im totalen Krieg stehe. Im Krieg liefere man einem Feind gar nichts, keine Lebensmittel, kein Wasser, keinen Strom. Durch die systematische Ermordung und die Verschleppung von Zivilisten habe die Hamas alle humanitären Normen geschändet und könne deren Einhaltung nicht mehr einfordern.
Ben Segenreich (Tel Aviv)