Es gibt ein anderes Triest, eine Stadt, die nicht in kakanischem Glanz schwelgt und vor dem weiten azurblauen Meer stolz ihre Weltläufigkeit zur Schau stellt. Es ist das Triest der armen Schlucker, der Schiffbrüchigen und Sans Papiers, die seit dem Ende der Pandemie in einem steten, anschwellenden Strom wieder über die Balkanroute an das äußerste Ende der Adria gelangen und dort oft wochenlang ohne festes Dach über dem Kopf auf der Straße leben.
Man muss nicht lange nach dieser Stadt suchen. Noch ehe man sie betritt, kann man hoch oben im Karst ihre künftigen Bewohner sehen. Mit gesenkten Köpfen und großen Plastiksäcken in den Händen trotten sie in San Dorligo della Valle, in Sgonico und Opicina die Straßen entlang. Was sie antreibt, ist die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Garantie darauf gibt es keine. Ein paar Schritte hinter dem Bahnhof erhalten sie aber zumindest einen Schluck warmen Tees und menschliche Zuwendung. Dort, in der Via Udine 19, betreiben die Comunità di San Martino al Campo und das Hilfswerk „Consorzio Italiano di Solidarietà“ ein Tageszentrum für die vielen fremden, neuen Obdachlosen der Stadt.
Zweimonatige Irrfahrt
Auch Muhammad ist heute zu Gast. Bis vor Kurzem habe er in einem verlassenen Lagerhaus im Alten Hafen geschlafen, berichtet der junge Afghane. Unterstützt von Ismail, einem Dolmetscher des Zentrums, erzählt er die Geschichte seiner Flucht: „Mein Onkel war Regierungsbeamter. Nach dem Sturz der demokratischen Regierung kamen die Taliban zu uns nach Hause und stießen wilde Drohungen aus. Die ganze Großfamilie ist geflohen. Die einen haben sich in Kabul versteckt, die anderen in den Iran und in die Türkei in Sicherheit gebracht“, sagt der junge Bursche. Er selbst vertraute sich Schleppern an. Viertausend Euro habe er dafür bezahlt, dass sie ihn in die EU schleusen. An der türkisch-bulgarischen Grenze sei er beinahe gescheitert. „Zweimal habe ich vergeblich versucht, auf die andere Seite zu gelangen. Die bulgarische Polizei hatte Hunde. Und sie haben mich geschlagen.“ Erst der dritte Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, war von Erfolg gekrönt. Nach zweimonatiger Irrfahrt habe er schließlich Triest erreicht. Und nun? „Ich will nur mein Leben leben. Gern würde ich in der Landwirtschaft arbeiten“, sagt Muhammad.
Triest ist voll von Geschichten wie dieser. Und das „Centro Diurno“ ist der Ort, an dem sie sich verdichten. Es ist an diesem spätsommerlichen Oktobertag gut besucht. Dutzende junge Männer drängen sich in den Räumlichkeiten. Es ist laut, heiß und stickig. Die Burschen spielen Tischfußball, diskutieren in kleinen Gruppen, schauen in ihre Handys oder trinken einfach nur Tee, der in einem großen Kessel zur freien Entnahme bereitsteht.
„Derzeit kommen vor allem Afghanen und Pakistanis, auch Bengalen. Sie nennen das Zentrum „Chây Khâna“ – „Teehaus“. Ich selbst mag den Vergleich mit einer Hafentaverne. Wir sind ein Hafen für alle, die auf der Straße leben, damit auch sie einen Ort haben, wo sie sein können“, sagt Miriam Baruzza von der Comunità di San Martino al Campo, die die mit privaten Spenden finanzierte karitative Einrichtung leitet. Sie ist eine freundliche, offenherzige Frau. In ihrer Freizeit tritt sie als Sängerin mit ihrer Gruppe Illirya auf. Doch ihre Umgänglichkeit sollte zu keinen falschen Schlüsse verleiten. „Man muss in meinem Job auch Nein sagen können, sagt Miriam. Neben der Versorgung mit dem Allernötigsten zum Überleben sei es ihr Ziel, den Leuten zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Nicht jeder schafft das. Manche haben auf ihrer Reise Schlimmes mitgemacht. Ihre prekäre Lage, das untätige Warten auf den Asylbescheid und die Einsamkeit zermürben die Leute. Erst unlängst wurde an einer Ausfallstraße die Leiche eines Erhängten gefunden. „Wir haben ihn hier gekannt. Er war aus dem Iran, schon etwas älter. Die Polizei sagt, es sei Selbstmord gewesen. Ich denke, er konnte einfach nicht mehr“, sagt Miriam.
Zwischen 250 und 300 Migranten leben den Hilfsorganisationen zufolge aktuell in Triest auf der Straße. Im Hochsommer waren es sogar 500. Das Problem wurde unübersehbar. Bürgermeister Roberto Dipiazza schlug Alarm. „Es reicht“, polterte er, sprach von einer Invasion und einem Ausnahmezustand. Nun patrouilliert Militär in den Straßen der Stadt, ohne dass die Migranten freilich verschwunden wären.
Vom Salon des Bürgermeisters im imposanten Rathaus auf der Piazza dell’Unità schweift der Blick weit hinaus auf das offene Meer bis an den Horizont, wo Wasser und Himmel ineinanderfließen. Er habe in 20 Jahren viele Menschen ankommen gesehen, Rumänen, Ägypter, Chinesen und Afghanen, sagt Dipiazza. Doch die gegenwärtige Zuspitzung sei die Folge der von der linken Vorgängerregierung in Rom installierten dezentralen Verteilung der Migranten auf Wohnungen. Das soll eine bessere Integration der Neuzuzügler ermöglichen. Eine Verrücktheit, ein kapitaler Irrtum, schimpft das Stadtoberhaupt. Ginge es nach dem ehemaligen Berlusconi-Mann, hätte man die Flüchtlinge längst in zwei aufgelassene Kasernen gesteckt, wo sie zu essen bekämen, medizinisch versorgt würden und auch Italienisch lernen könnten. Denn jetzt seien sie sich selbst und der Straße überlassen, wo sie zu nichts nutze seien und der Bevölkerung Ärger bereiteten, sagt Dipiazza.
Gianfranco Schiavone hält die Worte des Bürgermeisters für Demagogie. Bis vor einem Jahr habe die dezentrale Verteilung gut funktioniert und die Asylanträge seien rasch bearbeitet worden, berichtet der Präsident des Consorzio Italiano di Solidarietà (ICS). Doch dann, plötzlich, sei Sand ins Getriebe gekommen. Sein Vorwurf an die rechtsnationale Regierung in Rom und die Kommune: „Man will zeigen, dass es zu viele Flüchtlinge in Italien gibt. Und Triest ist das Labor, um einen künstlichen Notstand zu schaffen.“
Es ist Abend, die Sonne steht tief. Vom Meer her weht eine frische Brise. Auf der Piazza della Libertà vor dem Bahnhof lagern Gruppen von Migranten. Ein Bub, er ist keine 15 Jahre alt, wäscht sich am Brunnen mit Seife das Gesicht. Eine Frau verteilt aus einem großen Einkaufssack Brioches an die hungrigen Burschen. Sie hat sie gerade im Supermarkt gekauft. „Die 20 Euro tun mir nicht weh“, sagt sie und lacht. Auch das ist Triest.
Stefan Winkler aus Triest