Das muss mal gesagt werden. "Als Ministerpräsident bin ich für die Wirtschaft erster Ansprechpartner", sagt Markus Söder. Der Mann ist nicht nur Regierungschef in Bayern, sondern auch Vorsitzender der CSU. Seit 66 Jahren regiert die Partei im Freistaat. Ununterbrochen und meist mit absoluter Mehrheit. Umso bemerkenswerter ist Söders Klarstellung in eigener Chefsache. Es geht um mehr als einen Seitenhieb auf seinen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern. Es geht ums Selbstverständnis der CSU als Bayerns Staatspartei. Schon eine Koalition empfindet sie als Zumutung. Bei 36 Prozent steht die CSU in Umfragen. Stärkste Kraft, weit vor Aiwangers Freien Wählern (16 Prozent). Dennoch eine gefühlte Niederlage.
Es ist etwas in Bewegung gekommen. Nicht nur in Bayern. Seit Wochen ist die in Teilen rechtsextreme AfD im Höhenflug. In Hessen könnte sie am Sonntag sogar zweitstärkste Kraft werden. Deutschland aber wirkt merkwürdig antriebslos.
Das zeigt sich auch in Zahlen. Minus 0,3 Prozent – der Internationale Währungsfonds (IWF) attestiert dem Land die schlechtesten Wachstumsraten im Vergleich mit anderen Industrienationen. Der doppelte Übergang von Energiewende und Digitalisierung macht Deutschland zu schaffen. Bei VW in Wolfsburg liegt die Produktion wegen einer IT-Panne tagelang flach, die BASF fährt im Stammwerk Ludwigshafen die Ammoniak-Synthese runter. Zu energieintensiv. Bang fragt die britische Zeitschrift "Economist" auf dem Cover: "Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?"
"Die Symptome sind milder als die Diagnose vermuten lässt", antwortet Wirtschaftsminister Robert Habeck in einem Gegenbeitrag. Aber in Deutschland kriegt die Debatte kaum jemand mit. Das Land blickt zu gern nach innen. Ohnehin scheint der Umbruch viele zu überfordern. Gerade außerhalb der Metropolen. Stadt-Land ist die neue politische Verwerfungslinie in Deutschland. Die CSU wolle eine Klammer sein, so Söder diese Woche im TV-Duell. Patrona Bavariae – Bayerns Staatspartei als Schutzpatronin vor zu viel Veränderung.
Marode Bahn, fehlende Kindergartenplätze
Deutschland steckt mitten in einem Kulturkampf. Frankreich kennt das. Auch Aiwanger profitiert von seinem niederbayerischen Außenseiterstatus. "Stadt, Land, Frust" heißt das Buch, das der Politologe Lukas Haffert zuletzt zur neuen kulturellen Konfliktlinie vorlegte. "In urbanen Zentren dominieren Wissensökonomie und Kreativwirtschaft vom IT-Entwickler, über Design bis hin zu Bildungsberufen in Forschung, Universität und Schule. Diese ökonomischen Unterschiede übersetzen sich in unterschiedliche Werte", so Haffert zur Kleinen Zeitung. "Das städtische, eher akademische Milieu gibt sich tendenziell kosmopolitischer und offener gegenüber Veränderungen. Das äußert sich etwa in den Einstellungen zu Einwanderung oder Gleichberechtigung, aber auch in Lebensstilfragen."
So weit der Experte. In der Praxis heißt das, die einen drängen in Energiewendezeiten aufs Tempo, die anderen fürchten Wandel und Veränderung. Vom Deutschland-Tempo spricht Bundeskanzler Olaf Scholz. Nur, dass das nicht ankommt. Marode Bahn, stockender Wohnungsbau, fehlende Kita-Plätze. Es rumpelt in Deutschland. Als Fortschrittskoalition war seine Regierung vor zwei Jahren angetreten, stattdessen täglich politischer Nahkampf.
Das prägt auch die Migrationsdebatte, längst das beherrschende Wahlkampfthema im Land. "Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine", sagt CDU-Chef Friedrich Merz. Stimmt rechtlich nicht. Aber auch die Union wird nervös. Merz’ Einlassung ist kein verbaler Ausrutscher, sondern eine verzweifelte Wahlkampfinitiative. Selbst Präsident Frank-Walter Steinmeier spricht sich mittlerweile für eine Begrenzung der illegalen Zuwanderung aus. Smell‘s like Wien-Spirit – Zeitenwende in der deutschen Migrationspolitik.
Der Aufstieg der AfD bestimmt den Ton. Umso bemerkenswerter ist eine Studie, die Carsten Schneider, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, zum Tag der Einheit am 3. Oktober vorlegte. Demnach ist der Unterschied zwischen Ost und West geringer als zwischen ländlichen Regionen wie Pirmasens (West) beziehungsweise Erzgebirge (Ost) und städtischen Zentren wie Leipzig und München. Deutschland ist auf einer seltsamen Suche. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und das ausbleibende billige Gas zwingen dem Land eine neue Geschwindigkeit bei der Modernisierung auf. Energiewende, Verbrenner-Aus, E-Mobilität und Entkoppeln von China – nicht nur viele Firmen sind überfordert. Viele Menschen fühlen einen Verlust von Autonomie – vom Heizungskeller bis zur gendergerechten Sprache. Auch deshalb der Jammer von rechts über die Grünen als Verbotspartei. Es geht mehr um Ohnmachtsgefühl als um Kontrollverlust.
Der Sonntag dürfte eine nachhaltige Tendenz bestätigen. Das deutet sich in den Umfragen schon an. Die AfD scheint angekommen – auch in den westdeutschen Wohlstandsregionen in Hessen und Bayern. Umso mehr wächst der Druck auf die Politik. Stadt und Land warten auf Lösungen. Nicht nur in der Migrationspolitik.