Das letzte Mal, dass Narges Mohammadi die Stimmen ihrer Kinder Ali und Kiana gehört hat, ist mehr als ein Jahr her. Zum letzten Mal im Arm gehalten hat sie die beiden heute 16-jährigen Zwillinge vor acht Jahren. Dass Mohammadi ihre Kinder in absehbarer Zeit wieder sieht, ist wenig wahrscheinlich.
Ihre Gesamtstrafe beläuft sich nach mehreren Urteilen inzwischen auf mehr als 30 Jahre Haft, zwölf davon muss sie noch verbüßen. Brechen lassen hat sich die bekannte iranische Menschen- und Frauenrechtsaktivistin dadurch aber nicht. "Je mehr sie mich bestrafen, je mehr sie mir wegnehmen, umso entschlossener werde ich für Freiheit und Demokratie kämpfen", sagte die 51-Jährige im Juni in einem Interview mit der "New York Times", das heimlich im berüchtigten Evin-Gefängnis bei Teheran aufgenommen wurde.
Für ihren Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen in ihrem Land, ihren Mut und ihre Opferbereitschaft ist Mohammadi am Freitag mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Mit der Zuerkennung des 1901 erstmals vergebenen Preises zeichnet das Nobel-Komitee in Oslo aber nicht nur Mohammadi selbst aus, sondern auch explizit die gesamte Protestbewegung, die seit dem gewaltsamen Tod der jungen Kurdin Masha Amini gegen das iranische Regime auf die Straße geht. Als die Komitee-Vorsitzende Berit Reiss-Andersen am Freitag die diesjährige Preisträgerin verkündet, stellt sie an den Beginn ihrer Rede den Slogan "Frau–Leben–Freiheit". Dieser hatte sich, nachdem Amini von den Sittenwächtern wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs ins Koma geprügelt wurde, wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitet.
Gesicht und Stimme des Protests
Trotz ihrer Inhaftierung war Mohammadi auch während der Demonstrationen eine zentrale Figur im Kampf gegen das Regime gewesen, sie gab der dezentralen und weitgehend führungslosen Protestbewegung eine Stimme und ein Gesicht. Aus dem Gefängnis heraus prangerte die studierte Physikerin das gewaltsame Vorgehen des iranischen Sicherheitsapparats gegen die Aufstände an, die vor allem von der jungen iranischen Generation getragen wurden. Am Höhepunkt der Proteste Ende 2022 schmuggelte Mohammadi einen Bericht aus der Hochsicherheitshaftanstalt in Evin, der Folter und sexuelle Gewalt an Dutzenden inhaftierten Frauen dokumentiert. "Ohne sie wüssten wir über das Ausmaß der sexuellen Gewalt in den Gefängnissen nicht Bescheid", sagt die neue Amnesty-Österreich-Chefin Shoura Hashemi, die in den Monaten davor selbst zu einem der wichtigsten Sprachrohre der Protestbewegung im deutschsprachigen Raum geworden ist, zur Kleinen Zeitung.
Politisiert wurde Narges Mohammadi trotz des Rates ihrer Mutter, einen weiten Bogen um die Politik zu machen, schon von klein auf. Nach der Islamischen Revolution im Jahr 1979 wurden Verwandte der Familie verhaftet, die Hinrichtung ihres Onkels, die Schreie und die tiefe Trauer ihrer Mutter prägten Mohammadi für ihr ganzes Leben und pflanzten die Saat für das spätere Engagement als Aktivistin.
Mohammadi hat sich dabei vor allem für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran eingesetzt, immer wieder prangerte sie Urteile als politisch motiviert an. Sie ist zudem ein führendes Mitglied des Zentrums für Menschenrechtsverteidigung, das von der Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi mitgegründet wurde. Die iranischen Behörden haben der Organisation allerdings längst die Arbeit untersagt und werfen ihr vor, Propaganda zu betreiben. 2016 verurteilte ein Revolutionsgericht unter dem Vorsitz des berüchtigten Richters Abolghassem Salavati Mohammadi in diesem Zusammenhang schließlich zu 16 Jahren Haft.
"Ein Signal der Hoffnung"
Für Amnesty-Chefin Hashemi ist die Verleihung des Friedensnobelpreises dementsprechend "ein Schlag in das Gesicht des iranischen Regimes". "Auch wenn das vielleicht absurd klingen mag, aber die Regierung in Teheran sehnt sich nach wie vor nach Anerkennung in der internationalen Staatengemeinschaft", sagt Hashemi. "Und der Friedensnobelpreis als wichtigster politischer Preis der Welt bringt sie da natürlich unter Druck."
Für die Protestbewegung ist die Verleihung des Preises Hashemis Einschätzung zufolge hingegen ein dringend benötigtes Signal der Hoffnung. So hat der Kampf gegen das Regime in den vergangenen Monaten infolge der massiven Repressalien spürbar an Fahrt verloren, die Sittenpolizei kontrolliert nun wieder ganz genau die vor einiger Zeit verschärften Kleidervorschriften für Frauen und schreckt dabei auch nicht vor ausufernder Gewalt zurück.
So liegt nach Angaben einer Menschenrechtsgruppe die 16-jährige Armita Geravand nach einem Zwischenfall, der an den Tod von Masha Amini erinnert, seit Sonntag in einem Krankenhaus im Koma. Auf einem Überwachungsvideo ist zu sehen, wie die junge Frau in der Teheraner U-Bahn ohne Kopftuch in einen der Waggons steigt, kurz darauf zerren mehrere Personen, die zur Sittenpolizei gehören sollen, einen regungslosen Körper zurück auf den Bahnsteig.