Aserbaidschan hat nach eigenen Angaben am Dienstag mit "Anti-Terror-Einsätzen" in der Region Bergkarabach begonnen. Die Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. In Stepanakert, der Hauptstadt der zwischen beiden Ländern seit Jahrzehnten umstrittenen Region, waren nach Angaben eines AFP-Reporters Explosionen zu hören. Die in Armenien ansässige Vertretung Bergkarabachs sprach von einer "groß angelegten Militäroffensive".

"Intensiver Beschuss"

Mehrere Städte Bergkarabachs seien nach Angaben örtlicher Behördenvertreter von Aserbaidschan angegriffen worden. "Im Moment stehen die Hauptstadt Stepanakert und andere Städte und Dörfer unter intensivem Beschuss", so die Vertretung auf Facebook. "Mit Stand 20.00 Uhr gibt es 25 Opfer, darunter zwei Zivilisten, als Folge des umfassenden Terrorangriffs durch Aserbaidschan", schrieb der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach (Arzach), Gegam Stepanjan, am Dienstagabend auf X (vormals Twitter).

Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hatten mitgeteilt, zwei Zivilisten seien auf einer Straße in Richtung der Stadt Schuscha im aserbaidschanisch kontrollierten Teil Bergkarabachs durch eine von armenischen "Sabotagegruppen" gelegte Mine getötet worden. Vier Polizisten wurden demnach später auf dem Weg zum Explosionsort bei einer weiteren Minenexplosion getötet.

© Infografik Kleine Zeitung

Nach eigenen Angaben hat Baku Russland und die Türkei, die Schutztruppen bzw. Beobachter in der Konfliktregion stellen, über den "Anti-Terror-Einsatz" informiert. Es handle sich um eine "Anti-Terror-Operation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in der Region. Man wolle den nach dem letzten Bergkarabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchzusetzen. Es werde nur auf militärische Ziele geschossen, behauptete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium. Den Angaben aus Baku zufolge wurden zuvor zunächst eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt.

Humanitäre Korridore

Nach weiteren Angaben des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums wurden humanitäre Korridore eingerichtet, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen könnten. Das aserbaidschanische Außenministerium teilte mit, der einzige Weg, um Frieden herzustellen, sei der komplette Abzug armenischer Kräfte aus Bergkarabach. Das "Separatistenregime" in Bergkarabach müsse aufgelöst werden. Das armenische Verteidigungsministerium erklärte wiederum, man habe gar keine Kräfte in Bergkarabach.

Armenien rief unterdessen den UN-Sicherheitsrat und Russland zu Maßnahmen zur Beendigung des Militäreinsatzes auf. Es seien "klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression" nötig, heißt es in einer von armenischen Medien verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums in Eriwan. Regierungschef Nikol Paschinjan berief den nationalen Sicherheitsrat ein.

EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte in einem Statement die militärische Eskalation. Er forderte die "sofortige Einstellung der Feindseligkeiten" und appellierte an Aserbaidschan, die militärischen Aktivitäten zu beenden. Die EU setze sich weiterhin für einen Dialog ein, so Borrell.

Das österreichische Außenministerium forderte in einer Stellungnahme auf X (vormals Twitter) ebenfalls einen sofortigen Stopp der militärischen Aktivitäten Aserbaidschans. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock forderte Aserbaidschan auf an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Der Schutz der Zivilbevölkerung in Bergkarabach sei "auch Aufgabe der dort stationierten russischen Soldaten", so Baerbock.

Armenien hatte sich zuletzt wegen des großen Aufmarsches aserbaidschanischer Truppen an seinen Grenzen besorgt gezeigt. Auf der anderen Seite in Aserbaidschan nannte das Außenministerium in Baku wiederum die Konzentration armenischer Truppen an der Grenze die größte Bedrohung für die Stabilität der Region.

Ein armenischer Soldat in Bergkarabach
Ein armenischer Soldat in Bergkarabach © (c) AP (Sergei Grits)

Eskalation mit Ankündigung

Die militärische Operation kommt nicht von ungefähr. Seit Monaten kündigt sich eine Katastrophe in der Region an. In Bergkarabach fürchten 120.000 Menschen – davon alleine 30.000 Kinder – seit vielen Wochen, ausgehungert zu werden. Aserbaidschan blockiert den einzigen Versorgungskorridor in die Region. In dem kaukasischen Gebiet, tief im Süden der einstigen Sowjetunion gelegen, leben fast ausschließlich Armenierinnen und Armenier. Sie erlangten in den 90er-Jahren unter anderem Kontrolle über das Gebiet, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörte. Vor drei Jahren eroberte Baku zwei Drittel der Enklave zurück. Übrig blieb der sogenannte Latschin-Korridor, der die Bewohner Bergkarabachs mit ihrer armenischen Heimat verband. Doch die Nabelschnur wurde gekappt.

Unter dem Vorwand, angeblichen Schmuggel von Waffen zu unterbinden, blockiert der aserbaidschanische Autokrat Ilham Aliyev die Lebensader. Anfangs wurde nur der Warenverkehr gestoppt, zuletzt durften nicht einmal mehr Konvois des Roten Kreuz und medizinische Notfalltransporte passieren.

Es sind harte Worte, die ein Gutachter für die zugespitzte Lage in Bergkarabach wählt. Aber sie kommen nicht von irgendjemanden, sondern vom früheren Chefankläger des Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Luis Moreno Ocampo. Als „andauernden Genozid“ bezeichnet Ocampo die Situation im Kaukasus. Hunger werde als Waffe gegen eine Ethnie eingesetzt. Russland, die USA und die EU müssten handeln.
Und trotzdem passiert nichts. Der Grund ist hässlich, er ist ein Lehrstück geopolitischer Interessensverschiebungen. „Es ist keiner bereit, wegen der humanitären Situation wirklich Risiken einzugehen“, bringt es der Politikwissenschaftler Stefan Meister auf den Punkt.

Auch die EU hat Hintergedanken

Dass das Selbstvertrauen Aserbaidschans steigt und sich niemand so richtig für Armenien interessiert, liegt vor allem am Krieg in der Ukraine. Die traditionelle Schutzmacht Armeniens – Russland – ist geschwächt. Die 2020 vereinbarten russischen Friedenssoldaten, die eigentlich vor Ort für Stabilität sorgen sollten, sind durch den Krieg zu Hause durch unerfahrene Wehrpflichtige ersetzt worden. Hinzu kommt: „Russland braucht den Nord-Süd-Korridor über Aserbaidschan und die Türkei, um westliche Sanktionen zu umgehen“, so Meister.

Doch nicht nur Russland, sondern auch die EU hat Hintergedanken. Denn Aserbaidschan gewann durch die Sanktionen auch als Öllieferant der EU an Bedeutung. „Aserbaidschan fungiert als Zwischenhändler, indem es russisches Öl an die EU verkauft“, analysiert Naira Sahakyan, Historikerin an der American University of Armenia. Die Gasexporte nach Europa stiegen im vergangenen Jahr um ein Drittel. Diesen Rückenwind nützt Baku eiskalt aus.

Vorrang für Menschenrechte?

Als Lösung für die humanitäre Kisensituation wird die „gleichberechtigte“ Integration der Karabach-Armenier angeboten. Doch die meisten Bewohner der Region fürchten sich vor Unterdrückung. Das scheint nachvollziehbar. „Aliyev propagiert in seinen Reden Feindseligkeit und entmenschlicht das armenische Volk“, erklärt Sahakyan.
Nachdem Baku im vergangenen Jahr noch auf Eskalation setzte, wechselte man nun auf eine „Salamitaktik“, betont Kaukasus-Experte Meister. Ziel sei es, ein Abkommen zu erpressen und die Menschen langsam aber sicher zu vertreiben. Die internationale Staatengemeinschaft müsse die Stationierung von Friedenstruppen erwirken, sagt Meister. „Die Frage ist nur, ob den Menschenrechten Vorrang eingeräumt wird“, ergänzt die Armenierin Sahakyan.