An einem Samstagmorgen schreiten dreißig Menschen durch die Katakomben des Nationalstadions von Santiago de Chile. Sie sind nicht hier, um ein Fußballspiel zu besuchen, sie möchten sich mit der Geschichte ihres Landes befassen. Die hohen Wände sind voller Risse, von der Decke baumeln Kabel. Die Gruppe nimmt in einer früheren Umkleidekabine auf Holzbänken Platz. José Méndez Ulloa tritt in die Mitte des Raumes und blickt in die Gesichter der überwiegend jungen Besucher. Unter den hohen Decken hallt seine Stimme lange nach. Für José Méndez Ulloa ist das Nationalstadion kein Schauplatz des Vergnügens, sondern ein Ort des Überlebens. „Das Stadion war das größte Gefangenenlager in Chile“, sagt er. „In den Kabinen wurden Menschen brutal verhört. Viele wurden mit Stromschlägen gefoltert. Es gab Hinrichtungen, und etliche Leichen hat man später einfach in den Fluss geworfen.“
Am 11. September 1973, vor genau fünfzig Jahren, putscht das Militär in Chile gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Die Militärjunta wittert überall Gegenwehr, sie steckt Tausende Menschen ins Nationalstadion. José Méndez Ulloa, damals 24, wird wie viele andere an seinem Arbeitsplatz verhaftet und ins Stadion verschleppt.
Über den Sitzbänken der Kabine erinnern heute Fotos an die Opfer. „Es ist wichtig, dass wir an diesen Ort zurückkehren und an das Leid erinnern“, sagt José Méndez Ulloa, der regelmäßig Gruppen durch das Stadion führt. „So sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Diktatur wiederholt.“
7000 Menschen im Stadion gefangen
Ein Stadion als Symbol für Unterdrückung? In den ersten Wochen nach der Machtergreifung 1973 will die Diktatur die Menschenrechtsverletzungen zur Schau stellen. Auch das Nationalstadion wird in die Propaganda eingespannt, sagt die Architektin Valentina Rozas-Krause, die über das Stadion ein Buch geschrieben hat: „Die Militärs wollten die Botschaft verbreiten, dass an diesem symbolischen Ort Oppositionelle zum Schweigen gebracht werden.“ Nach Schätzungen des Roten Kreuzes werden zwischen September und November 1973 rund 7000 Menschen im Nationalstadion gefangen gehalten. Mindestens 41 Menschen verlieren im Stadion ihr Leben. Doch dann, im November, muss das Stadion geräumt werden.
Im Herbst 1973 will sich die chilenische Nationalmannschaft für die Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland qualifizieren. In der Ausscheidungsrunde trifft Chile auf die Sowjetunion. Das Rückspiel soll am 21. November 1973 in Santiago stattfinden. Die Machthaber in Moskau verlangen eine Spielverlegung. Eine Delegation der Fifa reist nach Santiago und besichtigt das Stadion. Einige der letzten Gefangenen werden später berichten, dass sie zu jenem Zeitpunkt unter Waffenandrohung in Kellerräume gebracht wurden. Der Schweizer Helmut Käser, damals Fifa-Generalsekretär, gibt das Entscheidungsspiel frei.
Die Sowjetunion boykottiert das Spiel. Und so steht die chilenische Mannschaft vor ein paar Tausend geladenen Gästen allein auf dem Rasen. Nach einem Schuss ins leere Tor pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab. Bei der WM 1974 in Deutschland bestreitet die chilenische Mannschaft dann ihre drei Vorrundenspiele im Olympiastadion von Westberlin. Gleich im ersten Spiel gegen die Auswahl des DFB schmuggeln linke Gruppen Transparente mit Botschaften gegen die Diktatur ins Stadion. Als Paul Breitner für Deutschland den 1:0-Siegtreffer erzielt, jubeln unter den mehr als 80.000 Zuschauern auch etliche Chilenen.
Rückkehr zur Demokratie
Damals lebt auch der chilenische Aktivist Jorge Escalante im Exil in Berlin. Mitte der Achtziger Jahre wächst der Widerstand gegen Diktator Augusto Pinochet. Wie viele andere kehrt auch Jorge Escalante in seine Heimat zurück. Als Journalist berichtet er über die Rückkehr zur Demokratie und 1989 über die Wahl des Christdemokraten Patricio Aylwin zum Präsidenten.
Als Journalist begleitet Jorge Escalante 1990 eine große Feier im Nationalstadion von Santiago. Auf dem Spielfeld ist eine riesige chilenische Flagge ausgebreitet. Zehntausende Menschen jubeln und singen. Zudem tanzen Ehefrauen von vermissten Männern einen Folkloretanz. „Dieser öffentliche Akt hat dem Nationalstadion eine neue Funktion verliehen“, sagt Escalante. „Aus dem einstigen Gefangenenlager wurde ein Erinnerungsort.“
Ronny Blaschke