Eines ist zumindest unbestritten: Olaf Scholz kann Dinge ausblenden. Dann schaltet er einfach auf Tunnelblick. „Wir brauchen ein großes Deutschlandtempo“, sagte der deutsche Kanzler am Mittwoch zum Abschluss der Kabinettsberatungen auf Schloss Meseberg nördlich von Berlin und mahnte: „Wir haben eine sehr erfolgreiche Leistungsbilanz. Und es wäre gut, wenn alle mit ihren Kommunikationsstrategien dazu beitragen“, so Scholz.

Deutschlands Regierungschef bezog die Kritik nicht auf sich, sondern auf die anderen beiden Kabinettskollegen in der Presserunde: Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen. Schon vor zwei Wochen hatte Scholz einen besseren Umgang untereinander angemahnt. „Ich wünschte mir, dass das im Ton manchmal anders stattfindet“, hoffte der Kanzler. Vergeblich. Kurz darauf verweigerte Familienministerin Lisa Paus von den Grünen in einem einmaligen Vorgang am Kabinettstisch die Zustimmung zu Lindners Wachstumschancengesetz, ein Milliardenprogramm zur Steuerentlastung der Wirtschaft. Erst müsse ein Beschluss zur Kindergrundsicherung her, einem im Koalitionsprogramm verankerten Neustart in der Familienpolitik.

Quälend lang dauerte die Debatte. Am Montag dann die Lösung. Statt der von Paus geforderten 12 Milliarden an Kinderunterstützung, gibt es von Lindner 2,4 Milliarden Euro. Von der sozialpolitisch versprochenen Verbesserung für Familien, bleibt demnach erst einmal nur eine Verwaltungsreform.
Die unterschiedlichen Leistungen sollen künftig mit einem einzelnen Formular erledigt werden können. Online! Digitalisierung ist das neue Zauberwort für die Koalition. Künstliche Intelligenz soll in der Verwaltung einziehen und generell eine Digitalisierungsoffensive der Behörden kommen, so der Kanzler. Dabei kürzt sein Finanzminister im Etat für 2024 die Mittel für die Digitalisierung. So ist das in der selbst ernannten Fortschrittskoalition. Anspruch und Wirklichkeit passen nicht immer zusammen. Die Ampel steht zu oft auf Dauerrot. Noch immer etwa ist unklar, wie das Klimageld – eine Entlastung der Bürger aus den Einnahmen der C02-Steuer – ausbezahlt werden soll.

"Das führt zu Geräuschen"

„Wir sind eine Regierung, wo gehämmert und geschraubt wird, das führt zu Geräuschen“, sagte Lindner in Meseberg leicht entschuldigend. Auch er selbst sorgt schließlich für reichlich Lärm. In zwei Jahren wird in Deutschland wieder gewählt. Die Bilanz der Ampel zur Halbzeit fällt mäßig aus. Sicher, die deutsche Bundesregierung musste die Auswirkungen des russischen Kriegs in der Ukraine meistern, vor allem die gestiegenen Energiepreise.
Aber während im übrigen Europa die Wirtschaft wieder anspringt, verharrt Deutschland im Tief. Eine positive Erzählung, wünschte sich der Kanzler. Doch auch aus dem unabhängigen Beraterkreis der Wirtschaftsweisen kommen leichte Bedenken. „Die Strukturen für das grüne Wirtschaftswunder müssen nun erst aufgebaut werden“, warnte die bekannte Ökonomin Veronika Grimm.


Um insgesamt sieben Milliarden Euro soll die Wirtschaft vom kommenden Jahr an entlastet werden. Dazu kommt der lang geforderte Bürokratieabbau: Steuerbelege müssen nur noch acht statt zehn Jahre aufbewahrt werden. Die Frage ist, ob das reicht angesichts der anstehenden Aufgaben: Energiewende, Übergang der Autoindustrie zur E-Mobilität, dazu die ökonomische Schwäche auf dem wichtigen deutschen Exportmarkt. „Is Germany once again the new sick man of Europe?“, titelte zuletzt der britische „Economist“ und zeigte auf seiner Titelseite ein Ampelmännchen am Infusionstropf.

Kranker Mann Deutschland?

Deutschland als kranker Mann des Kontinents also: Ist das ein zutreffender Befund oder total daneben? Habeck warnte vor Angstmacherei. Neben ihm stand Lindner und nickte. Doch bahnt sich der nächste Streit zwischen beiden schon an. Industriestrompreis! Habeck will den Strompreis für energieintensive Betriebe senken. Nicht nur Wirtschaftsweise wie Veronika Grimm widersprechen. Auch Lindner lehnt dies ab. Denkbar, so heißt es aus der FDP, sei allenfalls ein deutliches Senken der Stromsteuer. So läuft das in der Koalition.

Schaltet die deutsche Ampel also endlich um auf Kooperation? Habeck zumindest beschwor am Mittwoch ausgiebig den „Geist von Meseberg“. Abwarten, wie lange der trägt – das Problem liegt tiefer: Nach der letzten Regierungsbeteiligung flog die FDP im Jahr 2013 postwendend aus dem Bundestag. Auch deshalb verteidigt Lindner eisern liberale Kernkompetenzen. Zu denen gehört auch die Wirtschaft, die Robert Habeck betreut. Das erklärt manche Attacke auf den Wirtschaftsminister. Anders als in Wien verständigte sich die Koalition nicht die Ressorthoheit für einzelne Reformprojekte. So führt jedes Vorhaben umgehend zu einem neuen Stellungskampf. Bis auf Weiteres bleibt der gute Vorsatz von Meseberg. Mehr aber auch nicht.