Die Bilanz des spanischen Regierungschefs, des seit fünf Jahren amtierenden Sozialdemokraten Pedro Sánchez, kann sich sehen lassen: Die Ökonomie brummt, das Wachstum liegt über dem EU-Schnitt. Es wurden viele Arbeitsplätze geschaffen. Die Mindestlöhne stiegen um nahezu 50 Prozent. Die Inflation sank auf 1,6 Prozent und ist eine der niedrigsten in Europa. "Die Wirtschaft läuft wie geschmiert", jubelt Sánchez.
Sogar aus Brüssel kommt Lob: "Spanien ist heute ein Motor der Union", sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das schwer von der Pandemie getroffene Land habe sich wieder gut erholt. Und es sei jetzt Vorreiter beim Klimaschutz. "Spanien gehört zu den führenden Ländern bei sauberen Energien." Im Kampf für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung machte das frühere Macho-Land riesige Fortschritte. Nirgendwo in Europa wird Männergewalt gegen Frauen so hart bekämpft wie in Spanien.
Analyse
Und doch wird Pedro Sánchez, aller Wahrscheinlichkeit nach, heute in Spanien abgewählt. Nach dem Wahlbarometer des öffentlichen Rundfunks RTVE wird Sánchez’ konservativer Rivale, der 61-jährige Alberto Núñez Feijóo, die Wahl mit rund 35 Prozent der Stimmen gewinnen. Zusammen mit der Rechtspartei Vox, die bei 13 Prozent liegt, könnte es für den konservativen Block zur absoluten Mehrheit reichen. Feijóo, Vorsitzender der konservativen Volkspartei (PP), hat somit gute Karten, Spaniens neuer Regierungschef zu werden.
Für den Sozialdemokraten Sánchez dürfte es also eng werden. Allerdings kann sein progressiver Block, wie bisher, mit der Unterstützung der Unabhängigkeitsparteien aus dem Baskenland und Katalonien rechnen. Hier liegt einer der Hauptgründe für Sánchez‘ drohenden Absturz. Mit immer neuen Zugeständnissen hatte sich seine Minderheitsregierung die Stimmen der baskischen und katalanischen Regionalparteien gesichert. Dies erzürnte nicht nur die konservative Opposition, die ihn als "Vaterlandsverräter" brandmarkte. Auch aus den eigenen Reihen kam Kritik.
Dass es Sánchez mit seinem Entgegenkommen gelang, den brodelnden katalanischen Unabhängigkeitskonflikt zu entschärfen, geht in dieser emotionalen Debatte um die Einheit der Nation unter: Inzwischen wünscht nur noch eine Minderheit der Katalanen die Unabhängigkeit von Spanien. Im Wahlkampf stehen persönliche Angriffe im Vordergrund. So wirft der konservative Herausforderer Feijóo Sánchez vor, eigensüchtig zu sein: Dieser sei bereit, Spanien an die Separatisten zu verkaufen, um seine Macht zu retten.
Ralph Schulze (Madrid)