Die Stimmung war irgendwie gelöst. Ein Mobiltelefon im Saal pfiff mitten im Juli das Adventslied "Jingle Bells". "Es ist noch nicht Weihnachten", scherzte Olaf Scholz auf seiner Sommer-Pressekonferenz, um sich dann Unbequemerem zuzuwenden. Ob ihn die Umfragewerte der rechtsextremen AfD beunruhigten, wurde der deutsche Regierungschef gefragt. Scholz war sofort wieder sachlich. Er kenne die Lage, so der Kanzler. Bei der Landtagswahl in seiner Heimatstadt Hamburg sei die rechte Schill-Partei 2001 aus dem Stand auf 19 Prozent geschnellt. Die populistische Bewegung ist heute längst Geschichte. Scholz' Fazit: "Ich bin ganz sicher, dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl nicht anders abschneiden wird wie bei der letzten." Rechtsaußen wieder runter auf zehn Prozent? Das klingt optimistisch.

Die Lage ist heikel in Deutschland. Die AfD liegt im Bund in Umfragen gleichauf mit der SPD. Im kommenden Jahr stehen Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern an: Sachsen, Brandenburg und Thüringen. In allen drei Regionen liegt die AfD in Front. In Thüringen melden die Umfrageinstitute 34 Prozent für die extreme Rechte. Schon denken dort erste in der Union über eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei nach. "Die alten Bonner Koalitionsmodelle sind perdu", so Thüringens früherer CDU-Landeschef Mike Mohring. Er erntete heftige Kritik aus den eigenen Reihen. Deutschland wirkt ratlos im Umgang mit AfD.

Noch tröstet sich das Land wie Scholz mit der Hoffnung, die AfD sei wie einst Schill oder die Republikaner nur ein vorübergehendes Phänomen. Doch bleiben Zweifel. Corona, Krieg und Klimawende – das Land befindet sich gefühlt im Dauerstress. Ein Blick auf den Aufstieg der AfD und ihren Erfolg in vier Schritten.

25. Juni 2023 – Ganz unten angekommen: Es war ein heißer Sonntag im Landkreis Sonneberg an der Grenze von Thüringen zu Bayern. "Die AfD als Volkspartei ist angekommen in der Kommunalpolitik", jubelte Robert Sesselmann. Der AfD-Mann, von Beruf Anwalt, hatte gerade die Stichwahl im Kreis gewonnen. So stellt die AfD mit Sesselmann erstmals einen Landrat in Deutschland. Und das, obwohl die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang auf sechzig Prozent geklettert war. Früher galt in der Politikwissenschaft die klassische Formel, eine hohe Wahlbeteiligung schwächt extreme Parteien. Nicht nur in Sonneberg ist das anders. Zwei Wochen später gewinnt der AfD-Mann Hannes Loth, Studium der Evangelischen Theologie und Agrarwissenschaften, in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt die Bürgermeisterwahl.

Noch ein politikwissenschaftliches Dogma wankt. Protestparteien, so die Formel, sind vor allem bei Abstimmungen zweiter Ordnung erfolgreich, Europawahlen etwa, die als weniger wichtig eingestuft werden. Nun sitzt die AfD nicht nur im Bundestag und in vierzehn deutschen Landtagen, sie ist auch kommunalpolitisch erfolgreich. Auf der Ebene von Städten, Kreisen und Gemeinden, wo sich nicht aus der Anonymität des Wutbürgers heraus agieren lässt, sondern Kandidaten vor Ort präsent sein müssen. Die bittere Wahrheit lautet: Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD ganz unten angekommen und fest verankert in der Kommunalpolitik. Gerade dort, wo, wie in Thüringen und Sachsen-Anhalt, der völkische "Flügel" der Partei dominiert. Radikalisierung schreckt nicht ab, sie zahlt sich aus. Das ist die Lesart der AfD.

22. September 2013 – Verkannte Radikale: Deutschland atmete durch an diesem Wahlabend. In Europa tobte die Eurokrise und Angela Merkel gab die schwäbische Hausfrau. Auch für Griechenland. Bei den Bundestagswahlen im Land aber kam die AfD nur auf 4,7 Prozent. Nichts war's mit dem erhofften Einzug des Strickpulli-Ökonomen Bernd Lucke in den Bundestag. Eine trügerische Hoffnung. Wenige Monate später zog die Partei ins Europaparlament ein. An der Spitze Bernd Lucke, ein spröder Wirtschaftsprofessor mit Hang zu Oberlehrerhaftigkeit. Er hatte eine Reihe betagter Eurokritiker versammelt wie Joachim Starbatty, noch ein Hochschullehrer der Ökonomie, und Hans-Olaf Henkel, ein ehemaliger IBM-Manager und Ex-Chef des einflussreichen Bundes der Deutschen Industrie (BDI).

Ein Klub alter, weißer Männer aus der Mitte der scheinbar honorigen nationalkonservativen Gesellschaft, die dem Euro kritisch gegenüberstand. Lucke gab den bürgerlich geläuterten, schließlich war er auch in seiner protestantischen Kirchengemeinde gern mal aktiv. Doch war die AfD von Beginn an mehr als nur eine Professoren- und Eurokritiker-Partei. "Das Projekt einer Rechtspartei fasziniert seit Langem insbesondere solche, die ihren eigenen Standpunkt als bürgerlich bestimmen würden", notiert der Publizist und Feuilletonist der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Patrick Bahners in seiner beeindruckenden Analyse "Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus". Die These: Der neue Nationalismus knüpft an alte nationalkonservative Traditionslinien in Deutschland.

Die Partei musste sich nicht, wie vielfach behauptet, häuten, um von Lucke über Frauke Petry zu Björn Höcke zu kommen. Sie war schon immer radikal. Hier sammelten sich die Residuen eines vornehmlich protestantisch gespeisten antidemokratischen nationalkonservativen Bürgertums. "Wir dürfen wieder stolz sein auf unser Land, sobald wir wieder Grund dazu haben", lautet Henkels Formel für die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Lucke umschreibt die AfD gern als "Partei eines gesunden Menschenverstands". Dahinter steckt nicht allein Wissenschaftsskepsis. Es geht um mehr. Die Formel, notiert Bahners, "wird weithin als Synonym des 'gesunden Volksempfindens' betrachtet, eine Legitimationsfigur der nationalsozialistischen Umbildung der Rechtsbegriffe".

5. Februar 2020 – Der Sündenfall: Thomas Kemmerich hatte die Wahl. Nicht nur 17 lange Sekunden, die zwischen dem Votum des thüringischen Landtags lagen und Kemmerichs Entscheidung. Der FDP-Mann nahm die Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens an, obwohl die entscheidenden Stimmen von der AfD kamen. Susanne Hennig-Wellsow, Linken-Fraktionschefin im thüringischen Landtag, knallte Kemmerich den Glückwunschstrauß vor die Füße. Von ihrer Auslandsreise in Südafrika schaltete sich Kanzlerin Angela Merkel ein und drängte zum Rückzug. FDP-Chef Christian Lindner hatte etwas mehr Mühe, sich zu distanzieren. Der Sündenfall war geschehen und die FDP Opfer ihrer eigenen libertären Strategie geworden. "Ein Liberalismus der Selbstbehauptung gegen schikanöse staatliche Normierung, wie ihn die FDP dort predigt, wo sie zum Regieren nicht gebraucht wird, weist Affinitäten zu dem geistigen Widerstand auf, den die Rechten der Staatsgewalt so lange zu leisten gewillt sind, wie sie nicht in ihren Händen liegt", analysiert Buchautor Bahners.

Eine Mahnung an alle, in konservativ-christdemokratischen Kreisen, von CSU-Mann Manfred Weber mit seiner Radikal-Opposition im Europaparlament über Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der gegen das "verluderte" Berlin in den Wahlkampf für die Landtagswahl im Herbst zieht, bis zum neuen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der schon mal verspricht, man diskutiere auch schwierige Themen wie die "Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks". Radikal-Opposition können die rechten Populisten im Zweifelsfall besser. Bahners' Fazit: "Die AfD ist nicht bündnisfähig. Das steht fest, noch bevor Fragen des moralischen Geschmacks erörtert werden müssten." Anders als in Österreich, Finnland oder Schweden ist die radikale in Deutschland kein potenzieller Bündnispartner. Noch.

Bilanz – Originelle Erklärung aus Wien: Nicht nur Deutschland steckt im Umbruch. Er habe sich "umgeguckt", so Scholz auf seiner Sommer-Presserunde, und festgestellt, dass populistische Parteien "in Dänemark und Norwegen schon seit Jahrzehnten stark waren und dass das auch in den Niederlanden und in Österreich der Fall war". Die rechte Entwicklung in Deutschland ist also nicht mehr als ein Prozess einer europäischen Normalisierung. Geht so als Erklärung.

Auch, sonst ist die Kanzler-Analyse ein wenig blass. Die Staaten mit starken Rechtsaußenparteien wie Deutschland und Österreich sieht Scholz als die Länder an, "die die wenigsten Probleme haben". Selbst für den Sozialdemokraten Scholz greift das ökonomische Modell vom Modernisierungsverlierer als Erklärung für den Erfolg der Rechten zu kurz.

Wer keine Arbeit hat, wählt radikal rechts?! So einfach ist es eben nicht. Dazu reicht ein Blick in Deutschlands aufstrebenden Osten. Rund um Sachsens Landeshauptstadt Dresden floriert die Halbleiterindustrie, in Magdeburg in Sachsen-Anhalt zieht der US-Hersteller Intel für 30 Milliarden Euro eine neue Chipfabrik hoch, Brandenburg weist die höchsten Wachstumsraten in Deutschland auf. Der US-Konzern Tesla baut in Grünheide E-Autos für Europa, der Weltgigant BASF investiert in sein Werk in Schwarzheide Milliarden in die Produktion von Chemikalien für die Batterieproduktion. Im Osten entstehen längst blühende Landschaften.

Die AfD steigt auf und radikalisiert sich

Und warum so radikal? Eine Erklärung für die Wutbürger kommt aus Wien. Der bayerisch-österreichische Osteuropa-Historiker Philipp Ther, Universität Wien, hat eine Untersuchung über den Übergang von Werften in Polen und Kroatien nach der Wende vorgelegt: "In den Stürmen der Transformation", eine Musterstudie für die sozialen Auswirkungen eines wirtschaftlichen Übergangs. "Es ist eine große Herausforderung, die grüne Transformation so zu gestalten, dass sie sozialverträglich bleibt und damit auch mehrheitsfähig", sagt Ther dieser Zeitung. Noch eines ist bemerkenswert. In Gegenden, in denen nach der Wende Arbeitslosigkeit wütete, bleibt ein Gefühl der Verunsicherung, auch in der nächsten Generation. Wo der Staat und seine Betriebe sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 einfach so verabschieden, herrscht wenig Vertrauen in Institutionen. Was bleibt, ist Skepsis gegen alles von oben. Von der Impfempfehlung bis zum Heizgesetz.

Corona, Putins Krieg in der Ukraine und Klimawende erzeugen eine Gesellschaft der Verunsicherung. Lange traten freie Marktwirtschaft und liberale Demokratie als erfolgreiches Traumpaar ihren Siegeszug durch die Geschichte an. Daran weckt nicht nur Chinas Aufstieg Zweifel. So zeigt nicht nur die heftige Debatte über das Heizungsgesetz in Deutschland – es geht nicht nur in Klimawendezeiten zunehmend auch um die soziale Dimension der Demokratie.

So scheint die AfD im Osten derzeit nur eine zu stoppen. In Thüringen, so ermittelte eine Umfrage, käme eine Partei von Sahra Wagenknecht auf 25 Prozent. Und damit noch vor die AfD mit 22 Prozent (Linke 18, CDU 16, SPD 9, Grüne 5). Das zeigt nur eins: Einfacher wird's nicht. Schon gar nicht im Osten.