Der Boden ist Lava. So heißt ein Spiel unter Kindern. Der bloße Boden darf nicht berührt werden, Teppiche, Tische und Stühle werden als Inseln herangezogen und ermöglichen die Fortbewegung. Wer den Untergrund doch berührt, ist "tot". Das Leben ist kein Spiel. Aber dieses harmlose Spiel beschreibt das Leben von Marko Vidojković auf erschütternde Weise. Der serbische Schriftsteller lebt seit Jahren im Untergrund. Nur in Notfällen verlässt er sein Versteck. Vidojković übt seit Jahren Kritik am autokratischen System des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Irgendwann wurden die täglichen Morddrohungen zu konkret, zu erdrückend. Selbst der Belgrader Bürgermeister Aleksandar Šapić drohte im TV, Vidojković das Herz aus der Brust reißen zu wollen. Mithilfe des PEN-Klubs gelang Vidojković und seiner Frau die Flucht. Die Kleine Zeitung traf den Bestsellerautor auf der Durchreise. Irgendwo ankommen? Damit rechnet der Serbe nicht mehr. Der Boden ist Lava. Überall.

Eine Frage, die keine Höflichkeitsfloskel sein soll: Wie geht's?
MARKO VIDOJKOVIĆ: Ich bin nach wie vor gestresst. Ich war jahrelang im Überlebensmodus. Das legt man so schnell nicht ab. Die letzten zwei Jahre waren unerträglich. Die Medienkampagnen, die offiziellen Kampagnen des Regimes und die darauffolgenden Morddrohungen und Beleidigungen haben einfach nicht aufgehört. Es war das Rezept für einen langsamen Mord. Meine Frau und ich sind bis jetzt viermal umgezogen. Misstrauisch bin ich noch immer. Jedes Auto, jeder Anruf könnte eine Gefahr darstellen. Die erste Zeit im Exil war ungewohnt. Ich hatte Probleme, den Müll rauszutragen. Es war seltsam, mit meiner Frau gemeinsam spazieren zu gehen.

Wie kann man sich diese Unterdrückung vorstellen?
Ein großer Teil des serbischen Justiz- und Polizeisystems ist korrupt. Die Regierung Vučićs hat – wie auch internationale Recherchen zeigen – Verbindungen zur Mafia. Ich stehe auf einer schwarzen Liste. Seit zehn Jahren darf ich keine Werbung für meine Bücher machen. Man hat niemanden mehr, verliert Freunde und Familie. Niemand fragt: "Wie geht's?" Ich habe so viele Bestseller geschrieben, und mein Verleger fragt nicht einmal, wann das neue Buch fertig ist. Wenn ich in meinen Sendungen und Kolumnen etwas kritisiere, lande ich in den Schlagzeilen und auf Titelblättern. Die Aussagen werden völlig verdreht. Darauf folgen dann Morddrohungen, Tausende von Beleidigungen. Der Podcast stört das Regime am meisten. Der ist nämlich satirisch. Und Humor ist der größte Feind des Autokraten.

Kann die derzeitige Protestwelle gegen Alexander Vučić etwas ändern?
Die führt zu nichts. Das war schon unter Milošević so. Die Proteste sind nützlich, wenn sie sich im Zuge einer Wahl ergeben. Wöchentliche Proteste können in einem demokratischen Land wie Deutschland funktionieren, nicht in Serbien. Das Problem sitzt tiefer. Die Opposition ist schwach und nicht geeint. Und darüber hinaus populistisch. Sie ändert nichts am politischen Narrativ, daran, wie über die Kriege in Ex-Jugoslawien, über die ethnischen Säuberungen im Kosovo oder den Völkermord gesprochen wird. Als Milošević gestürzt wurde, nannte man als Grund, dass er die Kriege nicht gewonnen hatte. Die Bevölkerung muss sich im Inneren verändern.

Hintergrund der Proteste war eine Welle der Gewalt. Innerhalb von nur zwei Tagen erschütterten zwei Amokläufe das Land. Woher kommt all der Hass?
Das ist das Werk der Medien. Die Regierung produziert Wut, Angst, Paranoia und Aggression. Alle nationalen Fernsehsender und 90 Prozent der Zeitungen sind in Vučićs Händen. Unser Fernsehen ist außer Kontrolle. Die Menschen sind ständig mit Gewalt konfrontiert. In Reality-TV-Shows verprügeln Menschen einander, bedrohen und beschimpfen sich. Wir haben auch den höchsten Prozentsatz an Femiziden in Europa, Ehemänner bringen ihre Frauen um, als wäre es eine Tradition. Die Politiker sprechen in Interviews, als wären sie im Krieg. Wir bereiten uns durchgehend auf einen Krieg vor. Irgendwann kommt der Krieg dann zu dir.

Wieso wurden Sie nie festgenommen?
Ich kann nicht verhaftet werden, nur, weil ich mich über den Präsidenten lustig mache oder ihn beleidige. Sie wollen die Arbeit von jemandem anders erledigen lassen. Ziel ist es, dass mich jemand auf der Straße sieht und attackiert. Ich bin in der Rolle des perfekten Opfers. Wenn mir etwas zustößt, würde es niemanden kümmern. Ich kritisiere nämlich nicht nur das Regime, sondern auch die Opposition. Ich hege keine politischen Absichten, bin nur eine Stimme im öffentlichen Diskurs. Ich kann mir keine Unterstützung erwarten.

Ist die Appeasement-Politik des Westens richtig?
Nein. Vučić kauft sich Zeit. Er gibt die Annäherung vor und sucht gleichzeitig die Nähe zu Putin. Er will, dass Serbien zwischen der EU und Russland steht. Und er wartet auch auf die US-Wahlen. Mit Trump und den Republikanern hatte er gute Gespräche, was den Kosovo betrifft. Joe Biden sprach sich hingegen 1999 als Senator bereits für eine Nato-Intervention und die Bombardierung Serbiens aus.

Braucht es Sanktionen?
Nein. Jede Art von Sanktion spielt einem autoritären, kriminellen Regime in die Hände. Das Volk leidet darunter am meisten. Aber die herrschende Elite gedeiht darunter prächtig. Vučić wartet nur darauf, isoliert von Europa schmutzige Geschäfte mit Russland machen zu können.

Haben Sie eigentlich auch Hoffnung?
Wenig. Dieses Regime hat nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem Land sehr geschadet. Die Atmosphäre ist sprichwörtlich vergiftet. Durch unsaubere Kraftwerke. Wir haben Metalle und Müll in unseren Flüssen. Das hört sich also nicht nach einem Ort an, an dem man leben kann, ganz gleich, wie demokratisch man plötzlich geworden ist. Wir haben das Sprichwort, dass die Hand eines anderen einen nicht so gut kratzt wie die eigene. Ich sage: Wir brauchen aber dringend eine helfende Hand. Das ist kein Kampf um ein Ministerium oder für eine andere Partei. Wir kämpfen für die Wiederherstellung der Demokratie. Zwischen 2000 und 2012 hatten wir sogar eine. Sie war "verkrüppelt", wie ich sie gerne nenne, aber es war eine Demokratie. Das können wir wieder schaffen.