Russland hat einen Tag nach der Aussetzung des Getreideabkommens und des mutmaßlichen Angriffs auf die Krim-Brücke ukrainische Hafenstädte attackiert. Die Regierung in Moskau begründete am Dienstag eine Welle von Raketen- und Drohnenangriffen als "massive Vergeltungsschläge" für die Zerstörungen an der strategisch wichtigen Brücke, die das russische Festland mit der annektierten ukrainischen Halbinsel Krim verbindet.
Zwei Tote bei Explosion
Im Schwarzmeerhafen Odessa beschädigten Trümmer und Druckwellen mehrere Häuser und Teile der Hafeninfrastruktur, berichtete der ukrainische Militärstab für die Südfront. Die Behörden in der Hafenstadt Mykolajiw meldeten einen schweren Brand. Nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe wurden sechs Kalibr-Raketen und 31 von 36 Drohnen abgeschossen. Moskau erklärte seinerseits, es habe einen ukrainischen Drohnenangriff auf der Krim ohne größere Schäden am Boden vereitelt. Zudem sei der Straßenverkehr auf der Krim-Brücke einspurig wieder freigegeben worden.
Am Montag hatten Explosionen die Brücke stark beschädigt, zwei Menschen starben. Der ukrainische Geheimdienst SBU ließ gegenüber mehreren ukrainischen Medien und der Nachrichtenagentur AFP verlauten, dass er selbst gemeinsam mit der ukrainischen Marine den Angriff durchgeführt habe. Kurz darauf erklärte die russische Regierung, das für die globalen Lebensmittelpreise bedeutsame Getreideabkommen mit der Ukraine werde nicht verlängert. Die Ukraine will auch ohne Zusagen aus Moskau die Ausfuhren über das Schwarze Meer fortsetzen.
Deutsche Außenministerin übt scharfe Kritik
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verurteilte die russischen Angriffe auf den für die Getreideexporte wichtigen ukrainischen Hafen von Odessa. "Der russische Präsident (Wladimir Putin, Anm.) setzt traurigerweise erneut Hunger als Waffe in diesem Krieg ein", sagt Baerbock bei einem Besuch im Cyber-Abwehrzentrum der Deutschen Telekom in Bonn. Das zeige nicht nur die Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland, sondern auch die russischen Angriffe auf den Hafen von Odessa in der vergangenen Nacht. "Jede Rakete auf den Hafen von Odessa ist auch eine Rakete auf die hungernden Menschen in dieser Welt."
Wegen der Schäden an der Krim-Brücke könnte die russische Armee nach Einschätzung westlicher Experten bald signifikante logistische Probleme in der Südukraine bekommen. Der Angriff auf die Brücke vom Montag mache die Versorgung vieler russischer Truppen von einer verbleibenden Nachschubroute abhängig, hieß es in der Analyse des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington am Montag (Ortszeit). Die Route führe durch die umkämpften Gebiete Donezk, Saporischschja und Cherson. Sie werde jetzt wohl zusätzlich durch die Flucht russischer Touristen von der Krim belastet. So könnten sich die Probleme der russischen Armee in der Südukraine den ISW-Experten zufolge kurz- und mittelfristig noch weiter verschärfen.
Trotz des Krieges habe Russland die 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel bis zuletzt als Touristenziel beworben, heißt es ferner in dem ISW-Bericht. Schon vor dem Angriff auf die Brücke am Montag sei es zu kilometerlangen Staus auf beiden Seiten der Krim-Brücke gekommen. Präsident Putin habe den Einsatz militärischer Transportmittel angeordnet, um Touristen zu befördern. Feriengäste wurden nicht davon abgehalten, in ein Kriegsgebiet zu fahren, "wie es eine vernünftige Regierung tun würde".
Erstmals seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive vor sechs Wochen versucht Russland die Initiative auf den Schlachtfeldern zurückzugewinnen. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, russische Truppen seien zwei Kilometer in die Nähe des Eisenbahnknotenpunkts Kupjansk vorgestoßen. "Seit zwei Tagen ist der Feind im Sektor Kupjansk in der Region Charkiw aktiv in der Offensive", bestätigte die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar den russischen Angriff per Telegram. "Es finden schwere Kämpfe statt, und die Stellungen beider Seiten ändern sich mehrmals am Tag." Der Sprecher der ukrainischen Streitkräfte an der Ostfront, Serhij Tscherewatyj, sagte, das russische Militär habe über 100.000 Soldaten und mehr als 900 Panzer in dem Gebiet zusammengezogen.
Im vergangenen Monat hatte die Ukraine eine seit langem erwartete Offensive gestartet. Seitdem haben ihre Truppen einige Dörfer im Süden und Gebiete um die zerstörte Stadt Bachmut im Osten zurückerobert. Ein größerer Durchbruch ist bisher ausgeblieben. Die Regierung in Kiew hat erklärt, man rücke bewusst langsam vor, um hohe Verluste zu vermeiden. Der Schwerpunkt der Offensive liege vorerst auf Angriffen auf russische Nachschubwege und Kommando-Strukturen.
Russland beschuldigt Großbritannien
Großbritannien wies unterdessen Anschuldigungen Russlands zurück, wonach britische Geheimdienste in einen Angriff auf die Krim-Brücke verwickelt gewesen sein könnten. "Dies ist eine unbegründete Spekulation Russlands, die wir nicht weiter kommentieren wollen", teilt ein Sprecher des britischen Außenministeriums in der Nacht auf Dienstag mit.
Der russischen Vize-Botschafter bei den Vereinten Nationen (UNO), Dmitri Poljanskij, hatte am Montag vor dem Sicherheitsrat geäußert, dass britische Geheimdienste an dem in der Nacht auf Montag verübten Anschlag beteiligt gewesen sein könnten. "Ich habe von keinem der westlichen Sponsoren des Kiewer Regimes eine Verurteilung dieses Terroraktes gehört. Und wir müssen erst noch herausfinden, inwieweit westliche, insbesondere britische Geheimdienste, an der Vorbereitung und Durchführung dieses Terroranschlags beteiligt waren. Zu viele Dinge deuten darauf hin", sagte Poljanskij.
Seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im Juni ist es verstärkt zu Drohnenangriffen auf die Krim gekommen. Die Ukraine hat wiederholt bekräftigt, die seit der international nicht anerkannten russischen Annexion im Jahr 2014 unter Kontrolle Moskaus stehende Halbinsel zurückerobern zu wollen.