Gehört die Ukraine in die Nato?“ – im Grunde ist das eine Frage, die in letzter Konsequenz nur die USA wirklich glaubwürdig beantworten können. Denn die Nato ist ein sehr heterogenes Militärbündnis; es umfasst Länder wie Island, das nicht einmal eine Armee hat, militärische Leichtgewichte wie Luxemburg, Slowenien, Montenegro, Albanien und Kroatien bis hin zu militärisch relevanten Ländern wie Türkei, Großbritannien, Frankreich und natürlich die USA.
Somit ist klar, dass die Ukraine – ebenso wie Jahre zuvor die Staaten Mittel-Osteuropas – dem Nordatlantikpakt beitreten will, weil sie die Sicherheitsgarantien der USA anstrebt; denn Island und Co üben wohl keine Abschreckungswirkung auf den russischen Bären aus. Kern des westlichen Bündnisses ist der „Artikel V“ des Nato-Vertrages, der die Beistandspflicht so formuliert: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass (…) jede von ihnen (…) der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet …“
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Somit besteht zwar kein Automatismus für den Einsatz von konventionellen oder atomaren Waffen, doch die Glaubwürdigkeit der USA hängt davon ab, im Falle eines Angriffes auf ein Nato-Mitglied eben mehr zu tun, als nur ein „Beileidstelegramm“ zu senden. In diesem Sinne besteht für die USA das Risiko, selbst in einen Krieg mit Russland hineingezogen zu werden, sollte die Ukraine aufgenommen werden, solange sich das Land de facto im Kriegszustand mit Russland befindet. Dieses Risiko wollten die USA nicht eingehen; daher waren die Ergebnisse des Nato-Gipfels in Vilnius (darunter unter anderem die Schaffung eines Nato-Ukraine-Rates) und die Zusagen der G7-Staaten über militärische und sonstige Hilfe das Maximum, das für Kiew erreichbar war.
Diese Position Washingtons hat Tradition, war aber nicht immer so eindeutig. So schreibt die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte in einem Artikel für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ vom 10. Juli 2023: „In einer idealen Welt müsste die Nato nichts riskieren, um die Ukraine aufzunehmen, da das Land bereits Mitglied wäre.“ Freigegebene amerikanische Dokumente zeigen, dass Spekulationen über diese Aussicht mindestens bereits im Herbst 1994 aufkamen. Am 13. Oktober dieses Jahres schrieb Anthony Lake, der nationale Sicherheitsberater, an seinen Chef, Präsident Bill Clinton, über die „Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft“ für die Ukraine und die baltischen Staaten. (…) Nach Ansicht von Lake sollte Washington sie nicht einfach „in eine Grauzone oder einen russischen Einflussbereich verbannen“. Clinton machte ein großes Häkchen auf die Titelseite von Lakes Empfehlungen und schrieb: „Sieht gut aus.“
Doch Priorität hatten die atomare Abrüstung der Ukraine, die Beziehungen zu Russland unter Boris Jelzin und so musste Kiew der vollständigen atomaren Abrüstung zustimmen – und erhielt im Gegenzug vage Sicherheitszusagen auch der USA im Budapester Memorandum (1994), das völkerrechtlich nicht verbindlich war.
Die Ukraine verblieb somit in einer geopolitischen „Grauzone“, die mit den Nato-Osterweiterungen in den Jahren 1999 bis 2004 immer ungemütlicher wurde – auch deshalb, weil Russland diese Erweiterungen nicht zu Unrecht als Bruch amerikanischer Zusagen ansah, die im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gemacht wurden. Zwar gab es keine rechtsgültige Vereinbarung, doch US-Dokumente und Zeitzeugen zeigen klar, dass es Zusagen gab, die Nato nicht über Deutschland hinaus zu erweitern.
In der Ukraine selbst war damals und bis zur Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im Jahre 2014 die Annäherung an die Nato höchst umstritten. Der Westen des Landes war dafür, der Osten und der Süden, die beide stark russisch geprägt waren, waren massiv dagegen. Für die USA wurde die ukrainische Nato-Mitgliedschaft ein Ziel unter Präsident George W. Bush. Beim Nato-Gipfel in Bukarest im Jahre 2008 waren die USA für die Aufnahme der Ukraine und Georgiens, stießen jedoch auf starken Widerstand durch Deutschland und Frankreich; somit kam es zu einer grundsätzlichen Zusage, die jedoch bis heute – trotz Vilnius – nicht umgesetzt wurde. Wie brisant dieses Thema bereits damals war, zeigt ein von Wikileaks veröffentlichtes „Kabel“ nach dem Gipfel; darin schrieb der damalige US-Botschafter in Moskau und nunmehrige Chef der CIA, William Burns: „Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die hellste aller roten Linien überhaupt. Ich habe noch niemanden gefunden, der die Ukraine in der Nato als etwas anderes als einen direkten Angriff auf russische Interessen ansieht.“
Der russische Angriff und die Haltung der USA beim Nato-Gipfel in Vilnius haben somit die Ausgangslage bestätigt: Russland ist bereit, wegen der Ukraine Krieg zu führen, die USA sind es nicht! Sollte Russland keine massive Niederlage im Krieg gegen die Ukraine erleiden, stellt sich die Frage, warum Moskau eine Friedenslösung akzeptieren sollte, auf deren Unterzeichnung dann die Aufnahme der Ukraine in die Nato folgt. Somit bleibt abzuwarten, ob derartige politische Zusagen auch durch die USA dereinst tatsächlich umgesetzt werden.
Für Europa stellt sich die Frage, ob ein allfälliger Nato-Beitritt der Ukraine tatsächlich die Sicherheit auf unserem Kontinent erhöht; denn Russland wird wohl nicht verschwinden und Atommacht bleiben. Frieden ist in Europa gegen Russland nicht möglich, so unverzichtbar die Existenz eines ukrainischen Staates auch ist. Zur tragischen Ironie zählt, dass es ausgerechnet Wladimir Putin durch seinen Angriff war, der die Grundaufgabe der Nato erneuert und gestärkt hat; diese beschrieb ihr erster Generalsekretär Lord Hastings Lionel Ismay so: „Die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten.“