In Russland erholt man sich von einem turbulenten Wochenende. Der geplante und dann wieder abgesagte Putsch von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wurde zur größten Bedrohung für die Regentschaft Wladimir Putins in dessen 23-jähriger Amtszeit. Der Fokus bleibt aber auf den Hauptakteuren, Experten wie der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott vermuten, dass weitere Akte folgen werden. Doch wie steht es derzeit um Prigoschin, Putin und den weißrussischen Vermittler Alexander Lukaschenko? Ein Überblick:
Jewgeni Prigoschin
Der Chef der Wagner-Gruppe brach am Montag sein Schweigen. In einer Sprachnachricht auf Telegram sagte Prigoschin, er habe keinen Putsch vorgehabt. "Wir sind losgegangen, um Protest zu demonstrieren, nicht um die Obrigkeit im Land zu stürzen", sagte der 62-Jährige. Derzeit hält sich Prigoschin in Belarus auf.
Laut Flug-Monitoring dürfte der Wagner-Chef am Dienstagmorgen in Minsk gelandet sein. Laut Berichten des russischen Telegram-Kanals "Brief" soll Prigoschin wenig später im "Green City"-Hotel am westlichen Stadtrand gesehen worden sein. Lukaschenko hat dies mittlerweile bestätigt. Mangott würde Prigoschin nun raten, in Belarus Rosen zu züchten oder zu fischen beginnen, das dürfte seine Überlebenschance erhöhen.
Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass er diesem Rat nachkommt. Ebenfalls in Belarus dürften bald 8000 Wagner-Kämpfer sein, die in einem entstehenden Ausbildungslager untergebracht werden. Die zunächst ausgesprochenen Strafverfahren wurden nach Berichten der russischen Nachrichtenagentur Tass eingestellt.
Alexander Lukaschenko
Als Vermittler im Konflikt zwischen Prigoschin und Putin dürfte der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko aufgetreten. Mangott sieht darin einen "Freundschaftsdienst an Prigoschin", den der weißrussische Diktator bereits seit mehr als 20 Jahren kennt. Andere Experten zweifeln am Coup von Lukaschenko, sie vermuten, dass er auf Geheiß des Kremls gehandelt habe. Bereits in den letzten Jahren war Lukaschenko nach innerpolitischem Widerstand auf die Hilfe Moskaus angewiesen, um sich nach mehr als 30 Jahren weiter an der Macht zu halten.
"Ich glaube nicht, dass wir einen wirklichen Grund für die Annahme haben, dass Prigoschin auf Lukaschenko und seine Zusicherungen hören würde und dass er (Lukaschenko, Anm.) genug Einfluss und Stimme in der russischen Innenpolitik hat, um als Vermittler solcher Deals aufzutreten", sagte Artyom Shraibman vom Carnegie Russia Eurasia Centre im britischen "Guardian".
Ob auf Befehl oder auf Eigeninitiative: Lukaschenko wird in der belarussischen Propaganda als Held gefeiert. Auch in russischen Medien wird der benachbarte Machthaber nun wieder mehr als eigenständiger und handlungsfähiger Politiker wahrgenommen. "Jetzt kann man sagen, dass er einer der Gewinner dieses gescheiterten Staatsstreichs ist, und das wird ihm zumindest in naher Zukunft etwas von seiner Handlungsfähigkeit in seinen Beziehungen zu Russland zurückgeben", sagt Ryhor Astapenia, Direktor der Belarus-Initiative beim Thinktank Chatham House, dem "Guardian".
Bei einer Rede am Dienstag legte Lukaschenko zudem nach. Er räumte ein, dass alle Beteiligten die Gefahr der Eskalation des Konflikts anfangs falsch eingeschätzt hätten. Die Beteiligten hätten geglaubt, dass sich die Situation so lösen lasse. Daher seien weder er noch Putin oder Prigoschin als "Helden" zu bezeichnen. Zwei Menschen seien "aufeinandergeprallt", sagte er mit Blick auf Putin und Prigoschin. "In diesem Fall gibt es keine Helden", fügte Lukaschenko hinzu und kritisierte damit auch Kreml-Chef Putin.
Wladimir Putin
Für den russischen Präsidenten war es indes der größte Gesichtsverlust in seiner bisherigen Amtszeit. "Putin und der Staat haben einen schweren Schlag erlitten, der erhebliche Auswirkungen auf das Regime haben wird", sagte Tatjana Stanowaja, Gründerin des Analysezentrums R.Politik. Für US-Außenminister Antony Blinken hat der abgebrochene Aufstand "tiefgehende Fragen" aufgeworfen und "echte Risse" gezeigt.
Am Montag war in einer spät-abendlichen TV-Ansprache davon aber freilich nichts zu merken. "Ich danke allen Soldaten, Mitarbeitern der Geheimdienste, die sich den Aufständischen in den Weg gestellt haben", sagte Putin. Auf seinen Befehl hin sei alles getan worden, um Blutvergießen zu verhindern. "Das hat Zeit gebraucht", sagte Putin. "Der bewaffnete Aufstand wäre auch so zerschlagen worden."
Am Samstag hatte Putin erklärt, die Organisatoren des Aufstands hätten ihre Untergebenen betrogen. "Sie haben sie belogen, in den Tod getrieben und dazu, das Feuer auf ihre eigenen Leute zu richten." Genau dieses Phänomen – den Brudermord – würden Russlands Feinde sich erhoffen. Doch Russland werde sich nicht erpressen und Unruhe im Land stiften lassen. Putin dankte der Bevölkerung und den Sicherheitskräften, sich zum Schutz des Vaterlands geeint zu haben.
Er betonte, direkt Befehle gegeben zu haben, um "ernstes Blutvergießen" zu verhindern. Nach außen hin versucht Putin sein angeschlagenes Image des starken Führers wieder aufzupolieren. Ob das gelingt, hängt von der Fortsetzung des Konfliktes ab. Denn für alle Beobachter ist klar: Das letzte Kapitel ist noch nicht geschlossen.