Seit Jahren profitiert der russische Präsident Wladimir Putin von der Söldnergruppe Wagner - doch die Vorgänge um den von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin angezettelten Aufstand haben nach Einschätzung von Experten verdeutlicht, dass die einst unangefochtene Position des Kreml-Herrschers erheblichen Schaden nehmen könnte.
Bisher dienten die Einsätze der 2014 gegründeten Söldner-Gruppe Wagner in Afrika, Lateinamerika, Syrien und in der Ukraine Putins politischen Interessen - und der Präsident schien die damit einhergehenden internen Rivalitäten im Machtapparat eher zu genießen als zu fürchten.
Aber nun hat es die von Putin geförderte Organisation gewagt, sich gegen ihn zu stellen. Der langjährige Putin-Verbündete Prigoschin rief am Freitagabend die offene Revolte aus. Die schnelle und überaus scharfe Reaktion des Präsidenten in seiner Ansprache am Samstag machte deutlich, wie ernst er die Bedrohung nahm.
Die dann am Samstagabend plötzlich vollzogene Kehrtwende, bei der Prigoschin den Aufstand für beendet erklärte und seine Kämpfer in ihre Feldlager zurück beorderte, ließ das Szenario eines Marschs auf Moskau erst einmal in sich zusammenfallen - dennoch hinterlässt der Vorfall Spuren.
"Viele innerhalb der Elite werden Putin persönlich dafür verantwortlich machen, dass alles so weit gekommen ist", schrieb die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf ihrem Telegram-Kanal, bevor die Nachricht von der Kehrtwende Prigoschins am Abend um die Welt ging. Die Gründerin des Analysezentrums R.Politik urteilte, der ganze Vorgang bedeutet "einen Rückschlag für Putins Positionen". Zugleich zeigte sie sich überzeugt, dass Prigoschin nun "dem Untergang geweiht" sei.
Lange Zeit hat die Wagner-Truppe eine führende Rolle im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingenommen und an den gefährlichsten Frontabschnitten gekämpft, während die reguläre russische Armee zu wanken schien und nach westlichen Schätzungen kolossale Verluste erlitt.
Zugleich teilte Prigoschin ungehindert immer wieder gegen die russische Militärführung aus, namentlich Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Wütend beschimpfte er sie und warf ihnen vor, für den Tod seiner Leute verantwortlich zu sein, weil keine Munition geliefert würde.
"Lange Zeit wurde Prigoschin gestattet, die Elite zu attackieren - zum einen wegen seiner Nützlichkeit an der Front, zum anderen wegen seines Nutzens für Putin selbst", sagt Alexander Baunov vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin.
Im September 2022 gab sich Prigoschin erstmals nach jahrelangem Leugnen offiziell als Gründer der Gruppe Wagner zu erkennen und rekrutierte anschließend unter den Augen der Öffentlichkeit in russischen Gefängnissen neue Söldner.
Putin schien Prigoschin auf Abstand zu halten; ein öffentliches Treffen zwischen ihm und dem Söldnerführer gab es seit Beginn des Ukraine-Krieges nicht. Zugleich schien Prigoschin einen persönlichen Rachefeldzug gegen Verteidigungsminister Schoigu zu führen, der als einer der wenigen persönlichen Freunde Putins innerhalb der russischen Elite gilt.
Nach Einschätzung Baunovs entschied sich Prigoschin, die rote Linie zu überschreiten, als Putin am 13. Juni erklärte, alle Söldnertruppen sollten künftig dem Verteidigungsministerium unterstellt werden. In seiner eisigen Ansprache vom Samstag erwähnte Putin den Söldnerführer namentlich nicht - so wie er dies auch mit dem inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny hält.
James Nixey vom britischen Thinktank Chatham House sieht in Prigoschin "eine Art Frankensteins Monster", der bis zu einem gewissen Grad freie Hand gehabt habe, um die russische Armee zu effizienterer Kriegsführung anzustacheln. "Was jedoch jetzt passiert ist, geht weit über das hinaus, was Putin jemals vorhergesehen hat", sagt Nixey. "Es ist die erste direkte ernste Herausforderung für Putins Autorität innerhalb von 24 Jahren."
Die französische Politikwissenschaftlerin Anna Colin Lebedev sieht mit den Ereignissen um Prigoschins Aufstand die Einsicht bei den russischen Eliten wachsen, "dass die Zeit der Stabilität vorbei ist". Es sei nun erkennbar, "dass der als allmächtig wahrgenommene Staat Schwächen hat", sagt sie. "Der Sitz der Macht ist heute ein bei weitem wackeligerer Stuhl als es gestern der Fall war."