Die Türkei entschied sich einmal mehr für Recep Tayyip Erdoğan: In der Stichwahl kam der Islamisch-Konservative auf 52 Prozent. Sein Herausforderer, der Mitte-links-Politiker Kemal Kiliçdarolu, musste sich mit 48 Prozent geschlagen geben.
Die Stichwahl wurde nötig, nachdem Erdoğan im ersten Durchgang vor zwei Wochen die für einen Sieg erforderliche absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen knapp verfehlte. Erdoğan-Fans feierten am Sonntagabend den Sieg ihres Idols. Autokorsos fuhren hupend durch viele Städte, auch außerhalb der Türkei. Die Insassen schwenkten türkische Nationalflaggen und Fahnen mit dem Emblem der Regierungspartei AKP.
Hilfe von islamistischen Splittergruppen
Erdoğan wurde bei der Wahl von der ultranationalistischen Partei MHP, der politischen Heimat der berüchtigten Grauen Wölfe und von mehreren islamistischen und rechtsextremen Splittergruppen unterstützt. Das Ergebnis der Stichwahl bestätigte einen Trend, der sich schon zwei Wochen zuvor bei der Parlamentswahl gezeigt hatte: Die Türkei erlebt einen massiven Rechtsruck. Noch nie saßen so viele rechtsextreme und nationalistische Politiker in einem türkischen Parlament wie in diesem.
Erdoğans Volksallianz hat also die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verteidigen können. Aber die neue Regierung steht vor großen Herausforderungen: Die Türkei steckt in der schwersten Währungskrise seit 22 Jahren. Die Inflation erreichte im vergangenen Herbst 85 Prozent. Aktuell beträgt sie nach offiziellen Angaben 44 Prozent, aber regierungsunabhängige Ökonomen beziffern die Teuerung auf 105 Prozent.
Als Hauptgrund der Währungsmisere gilt, dass die Zentralbank der Inflation nicht mit Zinserhöhungen begegnet, sondern auf Druck von Erdoğan die Leitzinsen mehrfach gesenkt hat. Die Lira fiel am Montag auf ein neues Tief zum Dollar und zum Euro. Das Land kann sich nur dank Finanzspritzen aus Russland und den Golfstaaten über Wasser halten.
Beobachter erwarten, dass Erdoğan deshalb auch künftig die Nähe des Kremlchefs Wladimir Putin suchen wird. Erdoğan erklärte erst vor wenigen Tagen in einem Interview, für die Türkei seien die Beziehungen zu Russland genauso wichtig wie die zu den USA. Damit dürfte die Türkei in der Nato ein problematischer Partner bleiben. Als einziges Land des Bündnisses setzt sie die Sanktionen des Westens gegen Russland nicht um. Seit einem Jahr blockiert Erdoğan auch die Aufnahme Schwedens in die Nato. Er fordert von Stockholm die Auslieferung von regierungskritischen türkischen Exiljournalisten und Bürgerrechtlern, die in Schweden Zuflucht gesucht haben.
Erdbebenkatastrophe und Beziehung zu Syrien
Weiter äußerst angespannt sind aufgrund der türkischen Unterstützung für gegen die Regierung in Damaskus kämpfende Rebellen in Nordsyrien außerdem die Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien: Ein Versuch, sich wieder an den syrischen Machthaber Bashar al-Assad anzunähern, ist zuletzt fehlgeschlagen.
Nicht zuletzt der Wiederaufbau nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei Anfang Februar ist ein drängendes Thema: 50.000 Menschen kamen ums Leben, mehr als drei Millionen Menschen verließen die Region. Viele leben seitdem in provisorischen Zeltstädten. Erdoğan wird vorgeworfen, Baufirmen bevorzugt zu haben, die für die schlechte Qualität der Gebäude verantwortlich sind. Der Wiedergewählte versprach, so schnell wie möglich 650.000 Häuser in den Erdbebengebieten wieder aufzubauen. Die Gesamtkosten für die Schäden der Katastrophe belaufen sich nach Angaben der UNO und Erdoğans auf über 100 Milliarden US-Dollar.
So oder so: Der türkische Präsident regiert seit 20 Jahren und prägt die vor Hundert Jahren gegründete Republik länger als jeder türkische Politiker vor ihm. An diesem Freitag will er bereits sein neues Kabinett vorstellen. Seinen Herausforderer Kemal Kiliçdarolu verspottete er bereits in seiner Siegesrede als Versager: Die Oppositionellen seien Terrorhelfer und Unterstützer von Homosexuellen, die es "auf die Institution der türkischen Familie abgesehen" hätten.
Der Präsident betonte zwar, er wolle für alle 85 Millionen Türken da sein, doch seine neuen Angriffe auf seine Gegner zeigten ganz klar: Erdoğan hat bereits die Kommunalwahl im nächsten Jahr im Blick. Dann will er türkische Großstädte wie Istanbul und Ankara von der Opposition zurückerobern.
Gerd Höhler (Istanbul)