Recep Tayyip Erdoğan gibt sich großherzig. Unter seiner Regierung könne jeder nach seiner Fasson glücklich werden, behauptete der 69-Jährige vor der Stichwahl um das Präsidentenamt am Sonntag. Falls er die Wahl gewinne, werde "niemand verlieren", verspricht er. Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu aber habe nach der Niederlage im ersten Wahlgang "seine Maske fallen lassen": Mit ausländerfeindlichen Parolen zeige sein Herausforderer nun sein wahres Gesicht, so Erdoğan.

Der Spieß wird umgedreht

Vor der Stichwahl dreht Erdoğan also den Spieß um, tritt als versöhnlicher Landesvater auf und weist Kılıçdaroğlu die Rolle des Spalters zu. Kılıçdaroğlu hat Erdoğan den Rollentausch ermöglicht. Der Oppositionskandidat, der sich vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl noch als Versöhner der gespaltenen Gesellschaft empfahl, greift seither mit rechtspopulistischen Sprüchen an.

Der große Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu
Der große Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu © (c) APA/AFP/CAN EROK (CAN EROK)

Er werde als Präsident alle Flüchtlinge rauswerfen, die Erdoğan ins Land gelassen habe, so Kılıçdaroğlu. "Entscheide dich: Sind zehn Millionen Syrer nicht genug, sollen noch einmal zehn bis zwanzig Millionen kommen?", fragt Kılıçdaroğlu in einem Wahlkampfvideo. Nach amtlichen Statistiken leben zwar "nur" rund fünf Millionen Flüchtlinge in der Türkei, davon gut dreieinhalb Millionen aus Syrien – doch Fakten spielen jetzt keine Rolle mehr. Am 28. Mai stehe keine Wahl an, sondern eine Volksabstimmung über die Zukunft des Landes.

Der neue Kurs des Kandidaten ist umstritten: Politiker aus Kılıçdaroğlus Oppositionsbündnis kritisieren die ausländerfeindliche Sprache. Schon vor der ersten Runde der Präsidentenwahl hatte Kılıçdaroğlu angekündigt, den Flüchtlingsdeal mit der EU von 2016 nach einem Wahlsieg auf den Prüfstand zu stellen. Die Türkei werde nicht länger als Auffanglager für Flüchtlinge dienen.



Kılıçdaroğlu hatte in der ersten Runde knapp 45 Prozent der Stimmen erhalten, Erdoğan 49,5 Prozent. Mit seiner neuen Taktik zielt Kılıçdaroğlu auf vier Wählergruppen: So will er möglichst viele der 8,5 Millionen Türken für sich gewinnen, die bei Runde eins zu Hause blieben. Daneben gilt es, Frauen und Jungwähler anzusprechen. Zudem will Kılıçdaroğlu jene knapp drei Millionen Wähler erreichen, die am 14. Mai für den rechtsnationalistischen Kandidaten Sinan Oan stimmten: Dieser sprach eine Wahlempfehlung für Erdoğan aus.

Vor dem ersten Durchgang der Präsidentenwahl hatte Erdoğan seine Gegner noch als Terroristen beschimpft und ihnen vorgeworfen, Homosexualität zu propagieren. Jetzt aber wolle die Regierungspartei AKP versöhnliche Botschaften ins Zentrum ihres Wahlkampfes vor der zweiten Runde stellen, melden Erdoğan-nahe Medien. Anstatt zu polarisieren, wolle die AKP die gemeinsame Zugehörigkeit aller Bürger zur türkischen Republik betonen. Erdoğan betonte bei einem Besuch im Erdbebengebiet, er sei ein Politiker, der das Land einen und "alle 85 Millionen Menschen umarmen" wolle.

Erdoğan will den Machterhalt

Der Präsident will am Sonntag das Ergebnis der Wahl von 2018 übertreffen, als er mit 52,5 Prozent gewählt wurde. Deshalb ruft Erdoğan die AKP dazu auf, um jede Stimme zu kämpfen: Sein eigentlicher Gegner sei nicht Kılıçdaroğlu, sondern Siegesgewissheit und Trägheit, die seine Wähler davon abhalten könnten, zur Urne zu gehen.

In seinem Bemühen, sich als toleranter Präsident für alle darzustellen, strapaziert Erdoğan die Grenzen der Wahrheit: So sagte er zu Jungwählern, seine Regierung mische sich nicht in den Lebensstil der jungen Generation ein, die Musik- und andere Kulturveranstaltungen nach Belieben genießen könne. Dabei hatte die Regierung erst 2022 reihenweise Konzerte und Musikfestivals verboten.