Die Folgen der Pandemie, das Fortschreiten der Digitalisierung, der Klimawandel und der Krieg in Europa stellen Gesellschaft und Politik vor Herausforderungen. Mit 86 haben Sie einen weiten Blick auf die Welt: Wird es besser? Wird es schlechter?
Petros MARKARIS: Ich sehe zwei Seiten: Endlich hat jeder begriffen, dass der Klimawandel ernst genommen werden muss, und jeder weiß, dass es hier eine Problemlösung braucht. Andererseits sehe ich auch, dass die Politiker – und nicht nur die in Europa, sondern überall – die schwierigsten Probleme mit den einfachsten Mitteln lösen wollen. Kein Politiker tastet Wirtschaft und Finanz an. Aber so wird das nichts.

Diese Woche kam in Österreich eine aktuelle Jugendstudie heraus mit dem Ergebnis: Die junge Generation fühlt sich von der Politik kaum vertreten. Wie ist das in Griechenland?
Komplett gleich. Die jungen Leute distanzieren sich sehr von den derzeitigen Politikern, weil sie mit ihnen nichts anfangen können. Die Politik spricht die jungen Leute nicht an.

Eine halbe Million junger Menschen darf bei der heutigen Parlamentswahl in Griechenland erstmals wählen: Was wird das?
Das kann ein Problem werden, weil für die jungen Menschen die Politik hohl ist und kein Angebot für sie hat – und nicht nur in Griechenland. Was auch mit dem kompletten Versagen des linken Lagers zu tun hat, übrigens überall in Europa. Die heutige Linke ist zu einer Systempartei mutiert und uninteressant für junge Menschen geworden. Andererseits muss ich auch sagen, dass sämtliche griechische Regierungen gern alles ihrem Schicksal überlassen, und wenn dann eine Katastrophe passiert, sagen sie: Aber jetzt tun wir etwas! Aber das ist nur Show.

Nach dem verheerenden Zugunglück Ende Februar mit 57 Toten auf der Strecke Athen–Thessaloniki begriff das Land, dass die Infrastruktur kaputt ist. Der Protest war enorm. Kostet das die konservative Regierung die Wahl?
Das Zugunglück war ein harter Schlag für die Regierung. Aber die Infrastruktur war schon vorher komplett marod. Das wissen die Menschen auch. Schon zu Zeiten der Finanzkrise haben die jeweiligen Regierungen nur darauf geachtet, dass die Zahlen besser werden, im Fokus stand die Wirtschaft. Die Zahlen wurden immer besser, doch den Menschen ging es immer schlechter. Die Vorgaben der EU standen im Vordergrund, alles andere wurde seinem Schicksal überlassen. Eine Folge davon ist die lädierte Bahn. Und wohin das führt, hat man bei diesem Zugunglück ja gesehen. Die Politik schaut weg von den wirklichen Problemen.

Sie sagten einmal: "Ich gehöre einer Generation an, die gelernt hat, Widerstand zu leisten." Hat Sie das als Menschen gestärkt oder geschwächt?
Es hat mich gestärkt. Mein Vater und meine Mutter haben mich immer ermahnt zu kämpfen, wenn es notwendig ist, und mich für etwas einzusetzen und auf eigenen Beinen zu stehen. Heute versucht die Elterngeneration, die Kinder so lange wie möglich zu Hause zu halten, damit sie fürs Wohnen und Leben wenig Geld brauchen. In Griechenland gibt es viele 40-Jährige, die noch immer bei den Eltern wohnen. Das ist nicht gesund. Ich denke, dass nicht nur unsere Elterngeneration etwas davon hatte, dass wir widerständischer und kämpferischer waren, sondern auch die Politik.

Inwiefern?
Es war gesund für die Gesellschaft, dass unsere Generation bereit war, für eine gute Sache zu protestieren, eine Verbesserung zu verlangen und sich gegen ein System aufzulehnen, wenn es notwendig war.


Aber das sieht man ja bei den jüngeren Menschen heute auch, die sich für das Klima einsetzen.
Ja, ich schätze diese jungen Menschen sehr, die so sehr für eine bessere Umwelt kämpfen und so schlecht behandelt werden. Aber sie setzen sich nur für das Klima ein. Sonst sind sie sehr ruhig.

Ihre Kindheit und Jugend verbrachten Sie in der Türkei: Bei den jüngsten Wahlen lag die Wahlbeteiligung dort bei fast 90 Prozent. Davon können andere Länder nur träumen. Sind die Türken mündiger als sonst wo auf der Welt?
Ich denke, sie haben begriffen, dass es um viel geht bei dieser Wahl, dass der Wahlausgang entscheidende Folgen hat. Aber wie sich herausgestellt hat, half die hohe Wahlbeteiligung letztlich nur Erdoğan.

Wird er nächsten Sonntag die Stichwahl gewinnen?
Ja, ich denke schon.

Was bedeutet das für Europa?
Ich befürchte, dass Europa neben all den anderen Problemen noch mehr Probleme mit der Türkei bekommen wird. Entspannung ist keine in Sicht.

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: "Unsere Epoche wird das Zeitalter der Heuchelei bleiben." Stimmt das noch?
Ja, leider. Denn mit großer Begeisterung trägt die politische Klasse, und wieder nicht nur in Griechenland, die florierende Wirtschaft vor sich her und erklärt, dass sie wächst und wächst. Aber ein Land ist mehr als sein Bruttosozialprodukt. Denn es ist doch letztlich so, dass viele Menschen heute unter viel schlimmeren Umständen leben, es geht ihnen viel schlechter als noch vor ein paar Jahren. Das ist heuchlerisch.

Dazu kommt der Krieg mitten in Europa. Worauf müssen wir uns einstellen?
Es ist keine Frage, dass Europa und die gesamte freie Welt auf der Seite der Ukraine sind. Russland ist der Aggressor und muss besiegt werden. Da gibt es kein Wenn und Aber. Parallel dazu dürfen wir aber auch die Bemühungen nicht aufgeben, Russland dazu zu bringen, das Problem am Verhandlungstisch zu lösen. Denn es ist doch ein Irrsinn, wie viele unschuldige Menschen seit Kriegsbeginn täglich sterben müssen.

So viele junge Menschen verzweifeln angesichts der Krisen und des Krieges. Wo ist Hoffnung?
Das bringt mich auf Heiner Müller, der einmal gesagt hat: "Hoffnung ist das Privileg der Blinden." Aber was sonst ist der Antrieb des Menschen, zu kämpfen und sich zu widersetzen? Die Hoffnung hält lebendig. Die einzige Möglichkeit, dass die Hoffnung nicht stirbt, ist, dass wir ein klares Bild von dem haben, was rundum passiert, und wir uns notfalls auch dagegen wehren.

Wie haben Sie es geschafft, nie zu verzweifeln?
Meine Generation und die davor hat nie aufgehört zu kämpfen. Wir haben uns für eine bessere Welt eingesetzt. Man könnte auch sagen, wir waren zu optimistisch. Andererseits haben wir nie damit aufgehört, notwendigen Widerstand zu leisten. Wir haben es uns nicht bequem gemacht. Das hält wach, das hält lebendig. Da gibt es keine Zeit zum Verzweifeln.