Der Soziologe Kenan Güngör erwartet eine Abwahl des langjährigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentenwahl am Sonntag. "Ich bin vorsichtig optimistisch, dass die Wahl zugunsten der Opposition entschieden wird", sagte Güngör im APA-Gespräch. Wenn nicht im ersten Wahlgang, so dürfte es für Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in der Stichwahl zum Sieg reichen. Die Wähler der beiden anderen Kandidaten würden nämlich eher zur Opposition tendieren.
"Es ist von vorne bis hinten ein unfairer Wahlkampf", kritisierte Güngör den massiven Einsatz des Staatsapparates durch Erdogan und seine konservativ-islamische AK-Partei. Dies gehe so weit, dass der Innenminister sogar Zugriff auf die Wahlurnen verlangt habe, was ein "absolutes No Go" sei. Die Wahlbehörde habe diesen Angriff aber abwehren können. Auch die Opposition tue alles, um Wahlbetrug zu verhindern.
"Der Wahlkampf ist manipuliert. Die Frage ist, ob die Wahlzettel auch manipuliert werden", sagte Güngör. "Ich glaube nicht, dass das in sehr großem Umfang passiert", sprach der Wiener Politikberater von einem Ausmaß von "maximal einem Prozent". Bei einem knappen Ausgang könnte freilich auch das schon entscheidend sein. Mit Sorge sieht er insbesondere die Erdbebengebiete in der Südosttürkei. Diese seien eine "große Unsicherheitszone", was mögliche Manipulationen betrifft.
Im ersten Wahlgang werde Erdogan sicher nicht gewinnen, ist Güngör überzeugt. Kilicdaroglu könnte die absolute Mehrheit hingegen auf Anhieb schaffen. Dies hänge davon ab, wie viele Stimmen auf die weiteren Kandidaten, Kilicdaroglus Ex-Parteifreund Muharrem Ince und den Nationalisten Sinan Ogan, entfallen werden. Deren Wähler würden in der Stichwahl "zu 60 bis 70 Prozent" Kilicdaroglu wählen, sagte der Experte. "Dann müsste es (für den Oppositionsführer) klappen." Dies gelte freilich nur, wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse wie Terroranschläge dazwischenkommen.
Marshallplan für die Türkei
Sollte es zu einem Machtwechsel kommen, müsse die Europäische Union die neue Regierung unterstützen. Es sei nämlich zu befürchten, dass sich die Wirtschaftskrise nach der Wahl noch vertiefen wird, weil ein Kassasturz größere Finanzprobleme aufzeigen dürfte, die von der Regierung Erdogan "zugedeckt" worden seien, so Güngör. Deshalb brauche es einen "Marshallplan" für die Türkei. "Wenn die neue Regierung keine Erfolge vorweisen kann, könnte die AKP schon bei den nächsten Wahlen in zwei, drei Jahren wieder die Mehrheit erhalten", warnte der Experte.
Positiv sei, dass eine neue Regierung das auf die Person Erdogan zugeschnittene Staatsgefüge für einschneidende demokratische Reformen nützen könne. Weil die Macht des Staatspräsidenten "unglaublich groß" sei, könne man im Bereich der Korruptionsbekämpfung "viel durchsetzen" und auch die "AKP-isierung" des Staatsapparats rückgängig machen.
Sinneswandel der Auslandstürken
Verlassen konnte sich Erdogan bisher auf die Unterstützung der Auslandstürken, auch in Österreich. Dies könnte sich ebenfalls deutlich ändern. Diesmal dürften rund 60 Prozent der Auslandswähler in Österreich für Erdogan stimmen, erwartet Güngör. Vor fünf Jahren waren es 73 Prozent gewesen. Die in Österreich verbuchte Rekordbeteiligung von über 56 Prozent sei auf eine stärkere Mobilisierung des Oppositionslagers zurückzuführen. "Es ist eine Wahl, wo die Opposition zum ersten Mal eine realistische Chance hat zu gewinnen", erklärte Güngör. Hingegen sei bei traditionellen AKP-Wählern eine "leichte Distanzierungstendenz" zu bemerken.
Laut dem Experten ist nicht auszuschließen, dass sich Erdogan mit den Stimmen der Auslandstürken im Rennen halten und eine Stichwahl erzwingen könnte. In der Türkei werde die Rolle der Auslandswähler schon seit geraumer Zeit "kritisch diskutiert". "Ihr lebt seit Jahrzehnten im Ausland, ihr entscheidet über unser Schicksal und trägt keine Konsequenzen", laute der Vorwurf seitens vieler Türken im Mutterland. Es sei auch "ein Unterschied, wenn man in rechtsstaatlichen Ländern lebt und sich in der Türkei für antidemokratische Strukturen entscheidet", sagte Güngör mit Blick auf Erdogan und seine AKP. Langfristig habe dieses Argument eine höhere Relevanz als jenes, dass Auslandstürken aufgrund der restriktiven Staatsbürgerschaftsregelungen von politischer Mitbestimmung in ihren Wohnsitzländern ausgeschlossen sind und daher nur in ihrem Herkunftsland wählen können.
"Es ist ein Problem aus dem Demokratiedefizit, das wir hier haben", sagte der deutsch-türkische Soziologe mit Blick auf Österreich. Daher halte er Doppelstaatsbürgerschaften "für zielführend und richtig". Man sollte aber darüber nachdenken, ob Auslandstürken weiterhin unbegrenzt in der Türkei wählen dürfen sollen. Er selbst würde die Grenze mit der dritten Generation ziehen, die im Ausland lebt. Ab dieser sei man nämlich "Europäer" und sollte die politischen Entwicklungen in der Türkei nicht mehr mitbestimmen dürfen. "Die Menschen sollten in den Ländern, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben, wählen und entscheiden können", forderte Güngör.
Stefan Vospernik/APA