Die Ukraine hat dem russischen Präsidialamt zufolge in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch versucht, mit zwei Drohnen den Kreml in Moskau anzugreifen. Der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott erklärt, wer hinter dem Drohnenangriff stecken könnte.
Wie schätzen Sie den mutmaßlichen Anschlag ein?
GERHARD MANGOTT: Nach jetzigem Wissensstand gibt es zwei Erklärungszugänge. Für weniger wahrscheinlich, aber möglich halte ich, dass Russland diesen Anschlag inszeniert hat. Motiv dafür könnte sein, der russischen Bevölkerung die Dringlichkeit des Krieges näherzubringen. Zweiter Grund: Man könnte das als Vorwand für eine noch schärfere Vorgangsweise der russischen Armee in der Ukraine verwenden. Für wahrscheinlicher halte ich eine ukrainische Aktion – aber nicht, um Putin zu töten. Die Erzählung, dass es sich um einen Terroranschlag gegen Putin handelt, nützt der Kremlpropaganda. Putin ist selten in seinem Büro im Kreml. Wenn man Putin töten wollte, hätte man einen anderen Weg gewählt. Es war meines Erachtens ein demonstratives Signal der ukrainischen Seite, dass man in der Lage ist, selbst in der russischen Hauptstadt zuzuschlagen. Es gibt aber keinen Beweis für die ukrainische Täterschaft.
Der Luftraum über dem Kreml gilt als besonders gut geschützt. Ist es denn plausibel, dass dort einfach zwei ukrainische Drohnen hinfliegen?
Egal, welche Erklärung: Für die russische Flugabwehr ist das kein Ausweis von Qualität, dass Drohnen über die Kremlmauer und bis zu den Gebäuden vordringen. Wenn es inszeniert war, dann nimmt offensichtlich die russische Seite freiwillig in Kauf, dass man die mangelnde Qualität der russischen Luftabwehr offenlegt. Wenn es ein ukrainischer Angriff war, dann ist es auch bemerkenswert, dass die Luftwaffe erst so spät reagiert hat, wie das angeblich passiert ist.
Gibt dafür eine Erklärung? Sind die Defizite in der russischen Luftabwehr so groß?
Das kennt man bereits von früheren Sabotageakten der Ukraine auf russische Militärflughäfen oder auf Waffen- und Treibstoffdepots. Auch hier hat die Luftabwehr nicht wirklich gut reagiert. Es könnte auch sein, dass es wieder ein Versagen der russischen Luftabwehr war, diese Angriffe frühzeitiger abzuwenden.
Könnte der Anschlag von jemand anderem verübt worden sein? Zum Beispiel von widerständigen Kräften in Russland selbst?
Die Ukraine spricht immer wieder davon, dass es in Russland eine Partisanenbewegung gegen den Krieg gebe. Auch ein russischer Oppositioneller hat von einer nationalen Befreiungsarmee erzählt. Aber es gibt keine belastbaren Belege dafür. Wenn es sie gäbe, käme sie für die Tat natürlich auch infrage.
Sie halten einen von Russland inszenierten Angriff für weniger wahrscheinlich. Könnte der Drohnenangriff nicht auch als Vorwand für eine bevorstehende russische Offensive dienen?
Faktisch hat Russland seit Jänner versucht, eine Offensive zu starten, und die ist an mehreren Orten kläglich gescheitert. Auch das Argument, Russland wird den Angriff als Vorwand verwenden, um noch brutaler gegen die ukrainische Zivilbevölkerung vorzugehen, dann überzeugt mich das auch nicht. Russland macht das bereits.
Die ukrainische weist jede Beteiligung am Drohnenangriff von sich. Mykhailo Podolyak, ein Berater von Selenskyj, spricht von einem Ablenkungsmanöver, weil Russland in der Krim eine größere Offensive vorbereiten würde. Was halten Sie davon?
Wenn die Ukraine diese Drohnen losgeschickt hat, dann ist es nicht überraschend, dass das in Kiew dementiert wird. Sie hatte auch bei bisherigen Sabotageakten nie die Verantwortung dafür übernommen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Ukraine eigentlich westlichen Waffenlieferanten versprochen hat, mit diesen Waffen keine Angriffe auf russisches Territorium durchzuführen.
Andere erwarten wiederum eine Großoffensive auf ukrainischer Seite. Sie meinen, der Kreml würde jetzt sein Fußvolk mit neuen Propagandaregeln, mit Raketenangriffen und Verboten auf die bevorstehenden, schlechten Nachrichten einstimmen.
Auch das ist eine mögliche Erklärung – aber ich halte sie nicht für die wahrscheinlichste.
In Russland steht ein großes Event bevor. Am 9. Mai findet der "Tag des Sieges" statt. Wie wird diese Veranstaltung ablaufen?
Russland sagte bereits, dass die Siegesparade am 9. Mai um jeden Preis stattfinden würde. Wenn es eine inszenierte Aktion von Russland war, hat man auch keine größeren Sicherheitsbedenken. Wenn es die Ukraine war, besteht seit heute kein größerer Grund, Sicherheitsbedenken für diese Militärparade zu haben als gestern.
Welche Folgen wird der Drohnenangriff haben?
Wenn es die Ukraine war, hat es sich sicherlich nicht um einen Attentatsversuch gehandelt. Der Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wiktorowitsch Wolodin hat allerdings gesagt, die Führung solle jetzt Waffen einsetzen, die die ukrainische Führung zerstören könnten. Aber ich glaube nicht, dass wir es auf absehbare Zeit – oder überhaupt – mit einem russischen nuklearen Einsatz zu tun haben werden.
Jana Unterrainer