"Erdogan muss weg! Alle meine Nachbarn wählen ihn, aber ich nicht", sagt der 19-jährige Gökhan Çelik in Istanbuls Arbeiterviertel Kampasa, in dem auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aufwuchs und Fußball spielte. Erstwähler wie Gökhan kennen kein anderes Staatsoberhaupt als Erdogan und viele von ihnen sind frustriert von der Politik. Einer Umfrage zufolge wollen nur 20 Prozent der Jungwähler bis 25 Jahre bei der Präsidentschaftswahl Mitte Mai für Erdogan stimmen.
"Bin es leid, an Politik zu denken"
Auch Student Emre Ali Ferli hat genug von Erdogans Regierungszeit und will für die Opposition stimmen. "Ich bin es leid, morgens aufzustehen und sofort an Politik zu denken", sagt der 18-jährige. "Wenn Präsident Erdogan weg ist, können junge Leute sich auf ihre Prüfungen konzentrieren und frei reden." Er will für Erdogans wichtigsten Herausforderer, den Sozialdemokraten Kemal Kilicdaroglu, stimmen.
5,2 Millionen Erstwähler sind zur Parlaments- und Präsidentenwahl in rund zehn Tagen aufgerufen, sie stellen rund acht Prozent aller Wahlberechtigten. Kilicdaroglu will sich den Unmut der Jugend zunutze machen. "Durch euch wird der Frühling kommen", ruft der 74-Jährige von der Oppositionspartei CHP bei einer Wahlveranstaltung vor jungen Leuten in Ankara. Kilicdaroglu steht an der Spitze eines Bündnisses aus sechs Oppositionsparteien und hat Umfragen zufolge gute Chancen, Erdogan in der ersten Wahlrunde am 14. Mai zu besiegen.
Obwohl beide schon im Pensionsalter sind, versuchen der 69-jährige Erdogan und der 74-jährige Kilicdaroglu Jungwähler zu umwerben - mit Versprechen wie die Abschaffung einer Steuer auf den Kauf von Handys oder einen kostenlosen Zugang zum Internet. Ein weiterer Präsidentschaftskandidat, der 58-jährige Muharrem Ince, präsentiert sich seinerseits den jungen Leuten als jüngere Alternative.
Der 21-jährige Textilarbeiter Firat Yurdayigit kritisiert, dass Präsident Erdogan einen dritten Flughafen in Istanbul hat bauen lassen, "anstatt sich um die Probleme der Leute zu kümmern". Firat will Ince wählen: "Aber egal, wer gewählt wird, jeder ist besser als Erdogan", sagt er. Sein Freund Bilal Büyükler versucht den Präsidenten zu verteidigen, aber auch er muss zugeben, dass jener "teilweise verantwortlich" ist für Jahre wirtschaftlicher Probleme mit extrem hoher Inflation und Währungsverfall.
"Die Zustimmung zu Erdogan unter jungen Leuten ist gering", sagt Meinungsforscher Erman Bakirci vom Umfrage-Institut Konda. "Erstwähler sind moderner und weniger religiös als der Durchschnittswähler und über die Hälfte von ihnen sind unzufrieden mit ihrem Leben."
Religiöse Motive allgegenwärtig
Aber obwohl der arbeitslose Bilal mit der derzeitigen Lage hadert, vor allem mit der hohen Inflation und der Aufnahme Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei, wird er für Erdogan stimmen. "Ich kann aus religiösen Gründen nicht für Kilicdaroglu stimmen. Er ist mit Schuhen auf einen Gebetsteppich getreten", ereifert er sich. Dieser buchstäbliche Fehltritt des Chefs der säkularen CHP wurde von regierungsfreundlichen Medien und von Erdogan im Wahlkampf ausgeschlachtet.
Die 20-jährige Sevgi lebt in Eyüp, einem der konservativsten Bezirke Istanbuls. Sie will aber bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen "Politik und Religion nicht vermischen". Ihre Hauptsorge gilt der desolaten Wirtschaft. "Erdogan steht der Verwirklichung meiner Träume im Wege", sagt sie. Sie arbeitet, um eine Design-Ausbildung zu finanzieren. Ihr Freund unterbricht sie und zählt Erdogans Verdienste auf. Aber Sevgi schüttelt den Kopf und hebt mit Blick auf die 20-jährige Herrschaft von Erdogan hervor: "Auch wenn er ein guter Präsident wäre, dürfte er nicht so lange an der Macht bleiben."
Remi Banet/AFP