Ein Buch erhitzt in den USA die Gemüter: "Gender Queer" erzählt die Lebensgeschichte einer Person, die sich weder als Mann noch als Frau fühlt. Als kleines Mädchen verstand Maia Kobabe nicht, warum sie beim Schwimmen im Gegensatz zu ihren männlichen Mitschülern ein Bikinioberteil tragen musste. Ähnlich ging es ihr als Teenager mit Beinhaaren – warum müssen Frauen diese abrasieren? Bis heute hat sie von ihrer ersten Menstruation Albträume.
Auf persönliche Art schafft das Buch Verständnis dafür, wie jemand empfindet, der sich weder als Mann noch als Frau fühlt. Und trotzdem lassen Bücher wie "Gender Queer" die Wogen hochgehen: Lehrer fürchten sich deswegen vor dem Gefängnis, ganze Bibliotheken werden geschlossen. 2023 ist es das am häufigsten verbotene Buch der USA - obwohl es 2020 mit einem wichtigen Preis für besonders wertvolle Jugendbücher ausgezeichnet wurde.
Meinungsfreiheit als Dauerstreitthema
Es gibt kaum ein Gut, das den Amerikanern so sehr am Herzen liegt wie die Freiheit. Sie wollen sich nicht vom Staat vorschreiben lassen, wie sie leben sollen. Hochgehalten wird auch die Rede- und Meinungsfreiheit - sie steht in der amerikanischen Verfassung. Der Staat hat bei der Religionsausübung nichts mitzureden, die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit werden betont. In den letzten Jahren bröckelt dieses amerikanische Selbstverständnis aber. Grund dafür sind scheinbar unüberwindbare Spannungen, die in dem riesigen und vielfältigen Land herrschen. Hitzige Diskussionen über "Cancel Culture" und sogenannte "Woke Wars" gab es in den letzten Jahren regelmäßig – dazu gesellten sich weitere, schwierige Debatten – etwa über Abtreibungsgesetze, die das Land regelrecht erschütterten.
Die Organisation Freedom House untersucht, wie es um die Freiheit in der Welt bestellt ist. Ihr zufolge haben die USA Probleme: Während in Universitäten etwa lange Zeit die Meinungsfreiheit hochgehalten wurde, geriet sie in den letzten Jahren zunehmend unter Druck – von beiden politischen Seiten. Laut Freedom House wurden Lehrinhalte eingeschränkt, weil einige Studenten nicht damit einverstanden waren. Uni-Lehrende berichteten über Selbstzensur. Umstrittene Redner wurden körperlich attackiert. So meinte etwa eine Ex-Schwimmerin gegenüber CNN, dass sie geschlagen wurde, weil sie sich öffentlich gegen die Aufnahme von Transgender-Athletinnen ins Schwimmteam ausgesprochen hatte. Während die freie Meinung zunächst vor allem von linken Gruppen angegriffen wurde (Stichwort: "Cancel Culture"), tun das mittlerweile auch die Rechten – und sie scheuen dabei mitunter auch nicht vor drastischen Mitteln zurück.
Comics und "David" von Michelangelo
Am 20. April berichtete der PEN-Club, dass heuer im Vergleich zum vorigen Schuljahr um 30 Prozent mehr Bücher verboten wurden. Insgesamt wurden 1.477 Verbotsversuche dokumentiert. In den einzelnen Staaten gibt es mehr als 100 Gesetzesentwürfe, die Bibliotheken die Finanzierung streichen wollen, die Bücher strengen Ausleseverfahren unterziehen wollen. Der Grund ist die Angst, die eigenen Kinder könnten durch "unangemessene" Buchinhalte einer falschen Propaganda aufsitzen. Als Gründe für die Verbote werden oft "sexuelle Inhalte", "Gewaltdarstellungen" oder "mangelnde Altersgerechtigkeit" genannt. Unter den Top Ten der Verbotskandidaten ist auch der feministische Gedichtband "Milk and Honey" von Rupi Kaur. "Es beunruhigt mich zutiefst, dass eine Gruppe darauf aus ist, Schülern Literatur wegzunehmen, in der sie Zuflucht finden", schrieb die kanadisch-indische Schriftstellerin jüngst auf Instagram.
Immer wieder wurde in den letzten Jahren auch der Comic "Maus" verboten, in dem es um einen Auschwitz-Überlebenden geht. Angeblich wegen Nacktheit und anderen "Obszönitäten", die einigen besorgten Amerikanern zu viel waren. Dabei gilt die Graphic Novel als eine der besten überhaupt und erhielt 1992 als erster Comic den Pulitzer-Preis. Laut PEN-Club werden vor allem Bücher verboten, in denen es um Themen wie Rassismus, ethnische Minderheiten oder um LGBTQ+ geht. Aber auch Bücher über historische Themen und Klassiker sind unter den Verbotskandidaten. Durchgesetzt werden die Verbote von lokalen Gruppen, sogenannten "School Boards", Elternvereinen und von Politikern auf Bundesstaaten-Ebene gemeinsam. Die meisten Bücherverbote gibt es in republikanischen Bundesstaaten. Zwar sind konservative Gruppen für die meisten Verbote verantwortlich - es gibt aber auch Bücher, die der politischen Gegenseite ein Dorn im Auge sind. "Huckleberry Finn" etwa, weil darin rassistische Begriffe vorkommen.
Die Angst um die eigenen Kinder treibt mitunter seltsame Blüten: In Florida sollen nach einem aktuellen Gesetzesvorschlag alle Bücher für Schulen vorher von einem Medienspezialisten überprüft werden. Werden andere Bücher gefunden, müssen Lehrer und Bibliothekare sogar mit strafrechtlichen Folgen und Gefängnisstrafen rechnen. Anfang April wurden in einem Schulbezirk 25.000 Bücher aus den Schulbibliotheken verbannt, weil sie als "unangemessen" eingestuft wurden. In Texas wollten Gemeinden ganze Bibliotheken zusperren, weil ein Richter zuvor angeordnet hatte, dass entfernte Bücher wieder in die Regale eingeräumt werden mussten. Wegen einer Ausgabe von "Gender Queer" soll auch in Jamestown (Michigan) eine ganze Bibliothek zusperren – die Steuerzahler wollen sie nicht länger finanzieren. In Missouri drohen Politiker damit, allen öffentlichen Bibliotheken das Geld wegzunehmen.
Und die Sorge vor schlechten Einflüssen auf die Kinder beschränkt sich nicht auf Bücher: Im März musste eine Schuldirektorin in Florida zurücktreten, weil eine Lehrerin ihren Schülern ein Bild von Michelangelos "David" gezeigt hatte, ohne die Eltern vorher um Erlaubnis zu bitten. Dabei gilt die Renaissance-Statue als Klassiker der Kunstgeschichte. Den Eltern war die nackte Statue zu "pornografisch". In Europa konnte man sich das Lachen über die prüden Amerikaner nicht verkneifen: Das Museum, das "David" beherbergt, lud die Eltern aus Florida kurzerhand nach Florenz ein. Sie sollten sich selbst von Davids künstlerischem Wert überzeugen.
Krieg gegen "Wokeness" oder Freiheit?
Die vermeintliche Spießigkeit der Amerikaner ist aber zugleich sehr ernst: Die Streitereien über Bücher und Statuen zeugen von dem tiefen Misstrauen, das im Land grassiert. Die Folgen sind schwerwiegend: Geschlossene Bibliotheken, Selbstzensur und ein Klima der Angst: Eltern misstrauen Lehrern, überall werden Gefahren für das eigene Weltbild, den Glauben oder Lebensentwurf vermutet. Die Folgen sind ernst - das hohe Gut der Freiheit, das den Amerikanern so wichtig ist, wird brüchiger.
Der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, der kürzlich offiziell seine Kandidatur für das Rennen der Republikaner um die Präsidentschaft verkündete, ist in diesem "Abwehrkampf" besonders engagiert. Florida ist laut der New York Times ein Hotspot der neuen Verbotskultur. Bereits letztes Jahr machte er Andersgesinnten eine Kriegserklärung: "Wir bekämpfen die Woken in der Legislative. Wir bekämpfen die Woken in den Schulen. Wir bekämpfen die Woken in den Konzernen. Niemals werden wir uns dem woken Mob ergeben. In Florida stirbt der Woke", verkündete er entschlossen. Wenn DeSantis auf die Bücherverbote angesprochen wird, wehrt er sich dagegen: "Die Vorwürfe sind ein böser Schwindel, der dazu dient, unsere Kinder zu verschmutzen und zu sexualisieren".
Insgesamt ist es laut Freedom House derzeit um die amerikanische Freiheit weitaus schlechter bestellt als um die österreichische.
Jana Unterrainer