Papst Franziskus reist schon zum zweiten Mal nach Ungarn. 2021 war es der Eucharistische Kongress, der den 84-Jährigen in das Land gelockt hatte. Nach wenigen Stunden schon zog er weiter, um ein paar Tage in der Slowakei zu verbringen. Zurück ließ er das Versprechen, wieder zu kommen – und dann für länger. Von heute bis Sonntag löst er sein Versprechen ein.
Sein Gastgeber dürfte den Besuch mit gemischten Gefühlen erwarten. Jedes Mal, wenn die beiden Männer aufeinandertreffen, wird die Kluft deutlich sichtbar, die sie trennt. Ihre Vorstellungen von den Konsequenzen des christlichen Glaubens prallen hart aufeinander, zuletzt im Vatikan vor gut einem Jahr. Während der Kirchenstaat unverbindlich verlauten ließ, welche Themen die beiden Männer angesprochen hatten, wurde Orbáns Büroleiter konkret: Der Ministerpräsident habe dem Papst einen Brief König Belas IV. an Innozenz IV. aus dem Jahr 1250 überreicht. "Der König warnte darin vor der drohenden Invasion der Tataren und forderte die Einheit Europas. Er wurde ignoriert. 35 Jahre später wehrte Ungarn die Tataren mit großem Blutvergießen ab." Orbán selbst wurde noch emotionaler: "Ich habe Papst Franziskus gebeten, das christliche Ungarn nicht untergehen zu lassen", schrieb er nach der Audienz auf Facebook.
Abgrenzung zum Westen
Ein Jahr zuvor hatte der Papst vor den ungarischen Bischöfen zum selben Thema ganz andere Töne angeschlagen: Angesichts kultureller, ethnischer, politischer und religiöser Unterschiede gebe es zwei Haltungen: "Entweder verschließen wir uns in einer starren Verteidigung unserer sogenannten Identität, oder wir öffnen uns für die Begegnung mit dem Anderen und kultivieren gemeinsam den Traum einer geschwisterlichen Gesellschaft."
Viktor Orbán ist Calvinist, spät getauft nach Jugendjahren ohne religiöses Bekenntnis. Anton Pelinka vermutet, Orbán habe die vom Genfer Reformer und Politiker Johannes Calvin inspirierte Reformierte Kirche Ungarns gewählt, weil sie historisch eng mit dem Widerstand gegen Habsburg verbunden ist. Der Professor an der Central European University sieht in Orbáns Entscheidung "ein Signal in Richtung auf Abgrenzung zum Westen". Orbán distanziere sich so vom "kosmopolitischen Katholizismus" und vom "katholisch-lutherischen Mainstream, der ja die EU von der Gründungsphase an geprägt hat".
"Leitkultur"
Orbán sieht das Christentum als die "Leitkultur" Ungarns, wie er im Interview mit der Kleinen Zeitung sagte. In seiner ersten Regierungsperiode, von 1998 bis 2002, gab er den Kirchen ihre im Kommunismus enteigneten Besitztümer, Vermögen und Ländereien zurück. Er führte den Religionsunterricht wieder ein, den die sozialistische Vorgängerregierung abgeschafft hatte. "Wenn wir Ungarn über 1000 Jahre hinweg nicht dem Christentum gefolgt wären, wären wir verschwunden", sagte der Regierungschef vor dem ersten Papstbesuch 2021 und zieht daraus den Schluss: "Deshalb müssen wir auch die Nation schützen."
Zehn Jahre zuvor, frisch ausgestattet mit einer Zweidrittelmehrheit an Mandaten, ließ er eine neue Verfassung schreiben, mit deutlichem Bezug auf das Christentum. "Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Stephan I., den ungarischen Staat vor 1000 Jahren errichtet und zu einem Bestandteil des christlichen Europas gemacht hat", heißt es in der Präambel.
Katholischer Widerspruch
Gábor Iványi, ein reformierter Geistlicher, der Orbán kirchlich getraut hatte, nennt dessen Rede von der Verteidigung des christlichen Abendlandes in der "Süddeutschen Zeitung" einen "politischen Trick". Ihm komme Orbán vor "wie ein Vater, der zu Hause seine Kinder verprügelt und sich dann öffentlich für Kinderrechte einsetzt".
Auch aus der Katholischen Kirche, die in Ungarn stark auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, kommt vorsichtiger Widerspruch gegen die Vereinnahmung der Religion für die Politik. "Kann man ein Land, einen Kontinent 'christlich' nennen?", fragte der Primas von Ungarn, Kardinal Erzbischof Péter Erdö. In Hinblick auf gewisse Traditionen könne man das zwar, meinte er, aber "letztlich sind die persönlichen Überzeugungen der Menschen wichtiger".
Kampf-Christentum
Der Ministerpräsident zieht aus seinem Glauben die Konsequenz, Land und Kontinent gegen Nicht-Christen abschotten zu müssen. "Die Ungarn haben uns das Mandat für drei Ziele erteilt", sagte er nach der siegreichen Europawahl 2019: "Zuallererst, dass wir die Einwanderung stoppen, dass wir das Europa der Nationen sowie die christliche Kultur in Europa schützen. Wir brauchen Führungskräfte, die stolz auf die 2000 Jahre christlicher Kultur sind."
Orbán sieht sich im "Zivilisationskampf um die Seele und die Zukunft Europas", wie er einer kroatischen Zeitung erklärte. "Unsere Frage ist nicht jene des Zusammenlebens, sondern wie wir vereiteln, dass diese Frage überhaupt zur Frage wird", sagte er zur Kleinen Zeitung. "Fratelli Tutti", die universelle Geschwisterlichkeit, die Papst Franziskus schon im Titel seiner dritten Enzyklika anklingen lässt, ist schlecht vereinbar mit Orbáns nationalem und europäischem Kampf-Christentum.
Thomas Götz