Herr Segev, Sie haben über die ersten Israelis geschrieben, über Ben Gurion, den Sechstagekrieg und jetzt über Ihre Familie. Was ist Ihnen am schwersten gefallen?
TOM SEGEV: Über mich selber zu schreiben. Ich habe mir aber Mühe gegeben, meine eigene Geschichte so zu betrachten, als ob es eine fremde wäre. So habe ich nicht nur nachgeprüft, was andere mir über meine Familie erzählt haben, auch woran ich mich selbst zu erinnern glaubte, habe ich gegengecheckt.
War das Misstrauen in die eigene Erinnerung so groß?
Ich erzähle furchtbar gern Geschichten. Israel ist der beste Ort dafür. Sprich einen Unbekannten auf der Straße an und du hast eine Story, und zwar eine, die mit der großen Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammenhängt. Meine Erinnerungen als Journalist haben allerdings die Eigenschaft, dass sie mit den Jahren an Farbe und Dramatik gewinnen. Und so ist es auch mit den Familienmythen. Es gibt viele Menschen, die irgendwann entdecken, dass einige Dinge anders sind, als man es ihnen erzählt hat. Auch ich selbst musste das feststellen.
Was genau haben Sie entdeckt?
Meine Mutter hat mir meinen Vater als viel heroischer beschrieben, als es der historischen Wahrheit entspricht. Anders als behauptet, ist er während des Unabhängigkeitskriegs nicht von einem palästinensischen Kämpfer erschossen worden, sondern von einem Dach gefallen. Er war in Deutschland auch nicht im KZ und ist von dort geflohen, sondern er entkam aus einer Polizeiwache, wo er bis zu einem Gerichtstermin für ein paar Tage festgehalten wurde. Die Villa, in der meine Großeltern in Berlin wohnten, war nicht in ihrem Besitz, sondern nur gemietet. Und ich habe mir, als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal davor stand, noch gedacht. Wieso gehört sie eigentlich nicht mir?
Taten diese Wahrheiten weh?
Dass mein Vater verunglückte, habe ich bei der Lektüre der Autobiografie meiner Schwester erfahren. Sie war sieben, und er ist ihr vor die Füße gefallen. Das ist ihr Trauma. Sie hat es nie mit mir geteilt. Nicht, dass ich ihr das übel nehme. Aber ich war außer mir, wollte Näheres wissen. Vergeblich. Die Krankenakte meines Vaters war leer. Warum? Gute Frage. Ich habe dann herausbekommen, dass alle unsere Nachbarn wussten, dass mein Vater nicht bei einer Schießerei getötet worden war. Aber sie haben geschwiegen, weil meine Mutter sonst keine Witwenrente bezogen hätte. Aus Solidarität betrügt eine kleine Gemeinschaft in einem Staat, der noch nicht gegründet ist, eine Regierung, die es noch gar nicht gibt. Das ist doch einfach schön.
Sie wurden hinters Licht geführt. Hat das die Liebe zu Ihrer Familie geschmälert?
Ich neige dazu, die Dinge stoisch zu nehmen. Ich habe auch meine eigene Familie immer als Story wahrgenommen. Und über eine Geschichte bin ich auch zu meinen Sohn gekommen. Ich habe ja keine eigenen Kinder. Es war 1991. Vor der israelischen Botschaft in Addis Abeba lagerten Tausende Juden aus Äthiopien, die darauf warteten, nach Israel ausreisen zu können. Meine Zeitung schickte mich für ein paar Tage hinunter. Vor dem Heimflug sprach mich einer kleiner Bub an: „Wir kennen uns, du warst für deine Reportage bei uns.“ Journalist, der ich bin, habe ich sofort beschlossen, den Buben zur Story zu machen. Woche für Woche habe ich in meiner Kolumne im „Haaretz“ beschrieben, wie aus einem kleinen Äthiopier ein Israeli wurde. Die Jahre vergingen, ohne dass ich merkte, dass ich professionell etwas Falsches tue. Ich habe eine Beziehung zum Buben aufgebaut und er zu mir. Als er 16 war, hat er den Wunsch geäußert, nach Äthiopien zu fahren, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Das haben wir getan. Als wir zurückkamen, wussten wir, dass wir Vater und Sohn sind. Das ist 30 Jahre her. Er hat geheiratet, ich habe vier Enkel. Wir sind eine glückliche Familie.
Schreibt sich in dieser Geschichte von Flucht und neuer Heimat Ihre eigene Biografie fort?
Meine Eltern studierten am Bauhaus in Dessau. Sie waren Kommunisten. Mein Vater war Jude, meine Mutter nicht. Sie mussten aus Deutschland fliehen. Nach Palästina wollten sie nicht. Sie waren keine Zionisten. Vielleicht hätte sie Amerika aufgenommen. Aber das war ihnen aus ideologischen Gründen zuwider. Nach dem Krieg wollten sie zurück nach Deutschland. Doch dann verunglückte mein Vater und meine Mutter blieb. Sie hat sich in Israel nie wohlgefühlt, lernte nie richtig Hebräisch zu sprechen. Erst spät hat sie verstanden, dass auch sie ein Stein dieses so bunten israelischen Mosaiks geworden war. Es ist eine tragische Geschichte. Mein Sohn dagegen ist ein zionistisches Klischee. In einer Strohhütte in Äthiopien geboren, wurde er in Israel Elektronikingenieur und war beteiligt am Bau der israelischen Mondrakete.
Beweist das nicht, dass man im Leben doch auch Mythen braucht?
Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Mythen auch stimmen können. Doch in Israel gab es lange keine richtige Geschichtsschreibung. Stattdessen gab es Ideologie und Indoktrination in den Schulbüchern. Das hat sich erst Anfang der Achtzigerjahre geändert, als die Staatsarchive geöffnet wurden. Für viele Israelis war es ein Schock zu erfahren, dass die palästinensischen Araber ihre Häuser nicht einfach verlassen hatten, sondern dass mindestens die Hälfte von ihnen vertrieben wurde und dabei auch Kriegsverbrechen begangen wurden. Jedes Volk, jede Revolution, jede Krise braucht ihre Mythen. Aber mit der Wahrheit lebt man besser.
In Israel flauen die Proteste nicht ab. Zeigt das, wie brüchig die Mythen geworden sind?
Wir hatten schon viele Auseinandersetzungen in Israel, darunter auch gewaltsame. Aber die jetzige Situation ist einmalig. Noch nie regierte eine Koalition, die von so rechtsradikalen Parteien mitgetragen wurde. Das sind rassistische Fanatiker mit dem Hang zur Theokratie. Zum ersten Mal ist die Demokratie in Israel wirklich in Gefahr. Das ist keine Übertreibung. Premier Benjamin Netanjahu ist abhängig von diesen Parteien, und das gibt ihnen die Gelegenheit, Israels Grundwerte neu zu formulieren. Unsere Demokratie war nie ideal. Es gibt heute eine ganze Generation von Israelis, die ihren Militärdienst in den besetzen Gebieten geleistet hat und in Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen verwickelt wurde. Trotzdem ist es eine Demokratie und Israel eine Erfolgsgeschichte. Deshalb gehen die Leute auf die Straße. Wir haben so viel zu verlieren!