Frankreichs Regierung hat die umstrittene Pensionsreform ohne finale Abstimmung durchs Parlament gedrückt. Sie entschied am Donnerstag, das wichtigste Reformprojekt von Präsident Emmanuel Macron mit einem Sonderartikel der Verfassung ohne Abstimmung in der Nationalversammlung umzusetzen. Das Vorhaben kann theoretisch noch durch ein Misstrauensvotum gekippt werden. Die Gewerkschaft kündigten eine Ausweitung der Proteste an.
Premierministerin Élisabeth Borne sagte begleitet von lautem Protest der Opposition: "Diese Reform ist notwendig." Sie übernehme mit ihrer Regierung die Verantwortung, sagte Borne unter empörten Buh-Rufen in der Nationalversammlung und kündigte offiziell die Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 an, der die Verabschiedung eines Gesetzes ohne parlamentarische Abstimmung ermöglicht, falls die Regierung einen oder mehrere damit verbundene Misstrauensanträge übersteht.
Opposition hat jetzt 24 Stunden
"Wir sind uns bei einigen Stimmen nicht sicher, wir können das Risiko nicht eingehen", begründete Borne die Entscheidung, auf die ursprünglich für 15 Uhr geplante Abstimmung in der Nationalversammlung zu verzichten. Die Premierministerin warf der Opposition vor, die Debatten blockiert zu haben.
Die Opposition hat jetzt 24 Stunden Zeit, um einen oder mehrere Misstrauensanträge zu stellen. Die rechtspopulistische Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen kündigte umgehend einen Antrag ihrer Gruppe an. Falls die Regierung die Abstimmung verliert, läuft dies auf Neuwahlen hinaus. Die Stimmung in der Nationalversammlung war stark aufgeheizt. Teile der Abgeordneten sangen lautstark die Nationalhymne, es gab zahlreiche wütende Zwischenrufe.
Zwar hatte der Senat als zweite Kammer des Parlaments am Morgen für die Reform zur Anhebung des Pensionsantrittsalters von 62 auf 64 Jahre votiert. Eine Zustimmung in der Nationalversammlung schien aber nicht sicher.
Am Nachmittag gab es erneut Demonstrationen in Paris und an anderen Orten. In Paris setzte die Polizei auf dem Place de la Concorde Tränengas und Wasserwerfer ein, in Marseille verwüsteten Demonstranten mehrere Geschäfte. Die größten Gewerkschaften riefen zur Ausweitung der Proteste auf. Am Wochenende sollen weitere Demonstrationen organisiert werden, für den 23. März ist ein weiterer Aktionstag mit Streiks geplant. "Der Präsident und die Regierung sind in der Nationalversammlung gescheitert", betonten die Gewerkschaften.
Die Verabschiedung des Gesetzes ohne Schlussabstimmung im Parlament dürfte die Proteste der Öffentlichkeit erneut anfachen. Zwei Drittel der Franzosen lehnen die Reform ab. Die Pension mit 62 gilt in Frankreich als soziale Errungenschaft und ist Teil des Nationalstolzes. Die Reform benachteiligt nach Ansicht der Opposition vor allem Beschäftigte in anstrengenden Berufen.
Lücke in der Pensionskasse
Derzeit liegt das Pensionsantrittsalter in Frankreich bei 62 Jahren. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer für eine volle Pension nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Pension ohne Abschlag – das will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der nötigen Einzahljahre für eine volle Pension schneller steigen soll. Die monatliche Mindestpension will sie auf etwa 1.200 Euro hochsetzen. Mit der Reform will die Regierung eine drohende Lücke in der Pensionskasse schließen.
Streiks sorgen für Chaos
Die Mitte-Regierung muss in der Nationalversammlung nun mit einem Misstrauensvotum rechnen. Die Opposition hatte damit gedroht, sollte die Regierung den Sonderartikel nutzen, um eine Abstimmung im Unterhaus zu umgehen. Die Regierung hat in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit. Für die Reform setzten sie auf die Unterstützung der konservativen Républicains. Bis zuletzt war jedoch unklar, ob ausreichend Abgeordnete der gespaltenen Fraktion das Vorhaben billigen würden. Dieses Risiko wollte die Regierung wohl nicht eingehen.
Nicht nur im Parlament waren die Pensionspläne äußerst umstritten. Die Gewerkschaften halten sie für brutal und ungerecht. Seit Wochen gingen immer wieder Hunderttausende zum Protest auf die Straße. Streiks sorgten für Chaos im Bahn- und Flugverkehr, Müllberge auf den Straßen und ausfallende Unterrichtsstunden. Am Höhepunkt der Proteste beteiligten sich laut Innenministerium mehr als eine Million Menschen daran, die Gewerkschaft CGT sprach von 3,5 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern.