Bundespräsident Alexander Van der Bellen wirkt ernst. Wie so oft während seiner Amtsausübung. Doch bei seinem Besuch in Butscha in der Ukraine mischt sich etwas anderes in seinen Gesichtsausdruck: Betroffenheit. „Wir können uns gar nicht vorstellen, was genau hier passiert ist“, seufzt Andrij Halavin, Pfarrer der Sankt Andreas Kathedrale von Butscha. Hinter einer Kirche wurde eines der großen Massengräber gefunden. 116 Menschen, davon 30 Frauen und zwei Kinder wurden dort begraben. Immer wieder zeigt der Pfarrer dem Präsidenten Bilder von Opfern. Eine Familie, die schon aus der Ostukraine geflohen war, kam durch Beschuss ums Leben. Ebenso ein Chormitglied, erzählt er. „Dieser Ort macht tief betroffen, aber ich bewundere auch den Mut und die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer.
Butscha - ein Symbol für schwerste Kriegsverbrechen
Butscha und weitere Kiewer Vororte waren direkt in den ersten Kriegstagen Ende Februar von Russlands Truppen erobert und rund einen Monat lang besetzt gehalten worden. Als die Russen sich schließlich angesichts ausbleibender militärischer Erfolge in Richtung Ostukraine zurückzogen, wurden in dem Gebiet Hunderte getötete Zivilistinnen und Zivilisten gefunden - teils mitten auf der Straße. Fotos von Leichen mit Folterspuren und auf dem Rücken gefesselten Händen gingen Ende März um die Welt. Und auch, wenn seitdem viele weitere Gräueltaten ans Licht kamen: Kaum ein anderer ukrainischer Ort ist in dem seit beinahe einem Jahr andauernden russischen Angriffskrieg so stark zu einem Symbol für schwerste Kriegsverbrechen geworden wie Butscha.
Video: Interview mit Van der Bellen in Kiew
Insgesamt haben die Behörden in Butscha bisher mehr als 460 getötete Einwohnerinnen und Einwohner registriert, befürchten aber noch deutlich mehr Opfer. Trotz des Grauens: Das Leben in der Kleinstadt geht heute weiter. Menschen führen ihre Hunde Gassi, Geschäfte verkaufen wider ihre Waren, Mülltonen werden vor die Häuser geschoben für die Müllabfuhr. Auch die Schulen haben wieder geöffnet.
Genau dort, in einer Schule, die von Nachbar in Not unterstützt wird, hellt sich die Miene des Präsidenten auf. Sophia, ein elfjähriges Mädchen, erzählt von ihrer Zeit in Linz. Die einmonatige Besatzungszeit von Butscha hat sie in Sicherheit verbracht. Viele Schulkollegen von ihr hatten sich unter dem Gebäude versteckt und harrten dort aus. Durch die Hilfe von Nachbar in Not konnte das Dach der Bildungseinrichtung repariert werden. 1600 Schüler können wieder am Unterricht teilnehmen, wenn auch in Schichten. Andere Häuser konnten ebenso durch die Hilfe aus Österreich wieder aufgebaut werden. In der Bahnhofstraße, wo einst die zerstörten Panzer standen, werden heute die Dächer wieder gedeckt.
Auch die österreichische Delegation reiste mit konkreten Hilfen im Gepäck an, wie etwa dringend benötigten Generatoren oder Baumaterialien für den Bau von 200 Häusern. Seit Kriegsbeginn wurden 118 Millionen Euro staatliche Hilfe von Österreich zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus ist die Spendenbereitschaft der österreichischen Bevölkerung enorm. Allein über die Spendenaktion von Nachbar in Not kamen bisher 55 Millionen Euro zusammen.
„Ich habe bei meiner Angelobung klar gesagt, dass ich auch in den kommenden sechs Jahren sehr genau hinsehen werde, wenn es um den Schutz der Demokratie und den Erhalt unserer europäischen Werte geht“, erklärte Bundespräsident Van der Bellen im Vorfeld. „In der Ukraine sind diese europäischen Werte und die Demokratie gerade buchstäblich unter Attacke. Als Zeichen der Solidarität und der fortgesetzten Unterstützung, führt mich meine erste Auslandsreise in der 2. Amtszeit daher nach Kiew“, betonte der Bundespräsident. "Österreich ist zwar neutral, hilft aber humanitär und medizinisch", so Van der Bellen. Tatsächlich gehört die Alpenrepublik zu den größten Gebern humanitärer Hilfe pro Kopf gerechnet. Österreich sei zwar militärisch neutral, aber nicht wertneutral, betonte der Bundespräsident.
Zwei völlig unterschiedliche Präsidenten
Höhepunkt der Reise ist sicherlich das Treffen mit seinem Amtskollegen Präsidenten Wolodymyr Selenksyj. Die beiden kennen sich. Im September 2021 besuchte Selenskyj erstmals Wien. Van der Bellen war zuletzt im März 2018 in Kiew und Lemberg. Die beiden Präsidenten könnten kaum verschiedener sein. Nicht nur die Erscheinung und das Alter sind völlig anders, auch das Auftreten. Van der Bellen, bekannt für seine Besonnenheit, Selenskyj für seine mitreißende, vehemente Art. Selenskyj wirkt ungeduldig, spricht schnell und fordernd. Er redet die Problematik mit Raiffeisen direkt an. „Was das Unternehmen in Russland macht, ist unzulässig und dekretiert die österreichische Gesellschaft“, betont Seleskyj. Er fordert von Österreich noch weitere Hilfe ein, etwa bei der Minenentschärfung oder durch Anti-Drohnen-Systeme.
Die Neutralität stellt er dabei nicht infrage. In bilateralen Gesprächen zuvor hat Van der Bellen dem ukrainischen Präsidenten weitere Unterstützung zugesichert. Von Energie- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, die ebenfalls wie Wirtschaftsminister Martin Kocher in Kiew dabei ist, wurden zudem weitere fünf Millionen Euro für den „Ukraine Energy Support Fund“ zum Wiederaufbau beschädigter Energieinfrastruktur bereitgestellt.
Insgesamt stellt Österreich damit 10 Millionen Euro für den Fund bereit. Gewessler unterschrieb zudem mit ihren ukrainischen Amtskollegen Ruslan Strilets (Umwelt) und Herman Haluschtschenko (Energie) vor Ort auch jeweils ein Memorandum of Understanding – um die Zusammenarbeit im Bereich Umwelt bzw. Energie zu intensivieren. „Auch heute möchte ich in aller Klarheit sagen: Wir als Österreicherinnen und Österreicher stehen entschlossen und solidarisch Seite an Seite mit der Ukraine. Wir als Österreicherinnen und Österreicher werden die ukrainische Bevölkerung weiterhin mit Hilfslieferungen unterstützen. Das möchte ich Ihnen hiermit zusichern“, sichert Van der Bellen zu. Die Betroffenheit ist aus seinem Gesicht gewichen, der Ernst bleibt, jedoch mit einer Brise Hoffnung.
Die Reise im Liveblog
Hilfe im Gepäck
Neben den beiden Ministern Leonore Gewessler und Martin Kocher begleiten Van der Bellen von der Caritas Andreas Knapp, Rot Kreuz-Generalsekretär Michael Opriesnig und Volkshilfe-Geschäftsführer Erich Fenninger, die die ukrainische Bevölkerung mit vielen Hilfsprojekten unterstützen. Darunter eine Schule in Butscha und eine Geburtsklinik in Kiew, die mit österreichischer Hilfe saniert wurden bzw. am Laufen gehalten werden.
Die österreichische Delegation reist auch mit konkreten Hilfen im Gepäck an, wie etwa dringend benötigten Generatoren oder Baumaterialien für den Bau von 200 Häusern, die Wienerberger zur Verfügung stellt.
Von Energie- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler werden zudem weitere 5 Millionen Euro für den "Ukraine Energy Support Fund" zum Wiederaufbau beschädigter Energieinfrastruktur bereitgestellt. Insgesamt stellt Österreich damit 10 Millionen Euro für den Fund bereit: "Wir dürfen nicht zusehen, wie Putin den Winter als Waffe benutzt – und bei seinen brutalen Angriffen auf die Ukraine ganz gezielt versucht, die kritische Infrastruktur zu treffen. Millionen Menschen sind bei eisigen Temperaturen ohne Strom und oftmals ohne Heizung und Wasserversorgung. Es ist mir wichtig, dass Österreich hier einen Beitrag zur Unterstützung der ukrainischen Zivilbevölkerung leistet", betont Gewessler.
Gewessler wird mit ihren ukrainischen Amtskollegen Ruslan Strilets (Umwelt) und Herman Haluschtschenko (Energie) vor Ort auch jeweils ein Memorandum auf Understanding unterschreiben – um die Zusammenarbeit im Bereich Umwelt bzw. Energie zu intensivieren.
Ebenfalls in der Ukraine dabei ist Wirtschaftsminister Martin Kocher. Er hat im September 2022 gemeinsam mit der ukrainischen Wirtschaftsministerin und Vize-Premierministerin Julija Swyrydenko eine Rahmenvereinbarung unterzeichnet, die die Basis für die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine und speziell für die Beteiligung am Wiederaufbau bildet. Die Reise soll folglich auch dazu genutzt werden, um über weitere Möglichkeiten der Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft zu sprechen: "Angesichts der kriegsbedingt dramatischen Lage vor Ort ist es uns ein Anliegen, die bilateralen Kontakte mit der Ukraine weiter intensiv aufrechtzuerhalten und sowohl humanitäre Unterstützung zu leisten als auch wirtschaftliche Beziehungen zu fördern. Auf Basis der Rahmenvereinbarung schaffen wir die notwendigen Voraussetzungen, damit Österreichs Wirtschaft schon jetzt und beim Wiederaufbau einen entscheidenden Beitrag leisten kann", so Kocher.
118 Millionen für die Ukraine
"Wir unterstützen die ukrainische Bevölkerung mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen", betont Van der Bellen: "Seit Kriegsbeginn wurden 118 Mio. Euro staatliche Hilfe zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus ist die Spendenbereitschaft der österreichischen Bevölkerung enorm. Alleine über die Spendenaktion von Nachbar in Not kamen bisher 55 Mio. Euro zusammen." Der Bundespräsident und die österreichische Delegation werden sich vor Ort ein Bild davon machen, wie rasch und direkt die österreichische Hilfe im Kriegsgebiet ankommt.
Maria Schaunitzer (Kiew)