Mehr Drama geht kaum. Was sich in der Nacht auf Samstag im Plenarsaal des US-Repräsentantenhauses abspielt, lässt Beobachter ungläubig zurück. Es kommt zu verzweifelten Last-Minute-Verhandlungen auf offener Bühne, zu hitzigen Auseinandersetzungen, ja fast zu Handgreiflichkeiten zwischen Abgeordneten. Mehrfach wendet sich die Lage plötzlich unvorhergesehen in die entgegengesetzte Richtung.
Fernsehkommentatoren halten live den Atem an. Zum Schluss fällt der Hammer – und der Republikaner Kevin McCarthy ist der neue Vorsitzende der Parlamentskammer. Es geht um nichts anderes als das dritthöchste Amt im Staat.
Machtkampf innerhalb der Republikaner
Zurück zum Anfang: Der erbitterte Machtkampf, der die Kongresskammer komplett lahmlegte, begann am Dienstag. Da lehnten sich mehrere Republikaner vom rechten Rand der Partei erstmals gegen ihren Fraktionschef McCarthy auf und zogen ihre Rebellion tagelang durch. Sie verweigerten McCarthy die Unterstützung bei der Wahl zum Vorsitzenden der Kammer und unterwarfen sämtliche Kolleginnen und Kollegen dort ihrem Diktat. Denn bevor der Vorsitzende bestimmt ist, geht nichts. Die neu gewählten Mitglieder des Repräsentantenhauses mussten abstimmen und abstimmen und immer wieder abstimmen. Mehr als ein Dutzend Wahlgänge brauchte es – so viele wie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr. Und jedes Mal ließen McCarthys Gegner ihn gnadenlos auflaufen.
Erst am Freitag kommt Bewegung in die verfahrene Situation: Mit noch einer Batterie von Zugeständnissen zieht McCarthy da mehr als ein Dutzend seiner Kritiker auf seine Seite. Es sieht schon danach aus, als hätte er sich die nötigen Stimmen gesichert, als die Kongresskammer am späten Abend erneut zusammenkommt.
McCarthy gibt sich siegesgewiss. Doch am Ende fehlt eine einzige Stimme. Nur eine. Einer seiner härtesten Gegner, Matt Gaetz, enthält sich in letzter Minute und besiegelt so McCarthys 14. Wahlschlappe in Folge. Ratlosigkeit im Saal. Es beginnen hektische Gespräche. Ein Vertrauter McCarthys redet minutenlang auf Gaetz ein. Am Ende geht McCarthy selbst zu seinem Widersacher. Die beiden wechseln ein paar Worte mit angespannten Gesichtern, dann dreht McCarthy ab. Ein anderer Abgeordneter stürmt wütend auf Gaetz zu, ein Parteikollege hält ihn im letzten Moment zurück. Es wird laut. "Wo-hoo", rufen mehrere.
Auch andere Parteikollegen bearbeiten Gaetz. Doch der bewegt sich erst, als McCarthys Lager schon eine Vertagung der Sitzung beantragt hat. Ein weiteres Mal sprechen McCarthy und Gaetz kurz, dann läuft McCarthy zur Sitzungsleitung, ändert seine Stimme, um die Vertagung zu stoppen. Andere tun es ihm nach. Und kurz darauf folgt schließlich der 15. und letzte Wahlgang. McCarthy hat die nötigen Stimmen zusammen. Applaus brandet auf, noch bevor das Ergebnis verkündet ist.
"Das war einfach, oder?", sagt McCarthy später, als er seine Antrittsrede hält. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht. Nun ja, schiebt er später nach, "ich will ehrlich sein: Es war nicht so, wie ich es geplant hatte." Und das hier gibt er allen im Saal noch mit: "Ich hoffe, eines ist nach dieser Woche klar: Ich gebe niemals auf." Nach seiner Vereidigung reckt er kurz die Faust in die Luft.
Öffentliche Blamage und Zugeständnisse
Dabei geht er maximal geschwächt in sein neues Amt. Das tagelange Wahldebakel war für ihn eine öffentliche Blamage und eine Demütigung von historischem Ausmaß. McCarthy machte seinen Gegnern in den vergangenen Wochen und Tagen erhebliche Zugeständnisse – und hat sich dabei erpressen lassen. Die Radikalen pochten unter anderem darauf, die Verfahrensregeln in der Kammer so zu verändern, dass sie als Minderheit mehr Macht bekommen, um den Vorsitzenden vor sich herzutreiben. Es ist schwer vorstellbar, dass nach der Wahl eine vernünftige Zusammenarbeit möglich ist – schließlich ging es nicht nur um politische Ziele, sondern auch um Persönliches.
McCarthy schielt seit Jahren auf das dritthöchste Amt im Staat und war immer darauf aus, es sich nicht mit den radikalen Anhängern von Ex-Präsident Donald Trump zu verscherzen. Er ahnte wohl, eines Tages auf ihre Unterstützung angewiesen zu sein. Das ist gründlich nach hinten losgegangen – die Hardcore-Fans von Trump haben nicht nur gezeigt, dass auf sie kein Verlass ist, sondern dass sie den Politikbetrieb an sich verachten und auf Demontage aus sind.
Dass sich Trump für McCarthy starkmachte, hielt dessen Gegner nicht von dem Spektakel im Parlament ab. Am Ende will Trump es aber gerichtet haben. Auf Fotos der Sitzung ist zu sehen, wie die rechte Abgeordnete Marjorie Taylor Greene vor Parteikollegen mit ihrem Handy fuchtelt. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, dass "DT" am anderen Ende ist: Donald Trump. McCarthy bedankt sich nach dem Wahlsieg vor Reportern jedenfalls "besonders" bei Trump. "Er hat wirklich geholfen, die letzten Stimmen zu holen", sagt McCarthy. "Ich denke nicht, dass irgendjemand an seinem Einfluss zweifeln sollte."
Was Trump in jedem Fall geschafft hat, ist, die interne Spaltung der Partei voranzutreiben. Die republikanische Fraktion ist zerrüttet. McCarthy kann sich darauf einstellen, ab sofort ständig Kämpfe dieser Art auszutragen, um Mehrheiten zu organisieren. Dabei ist es üblicherweise schon schwierig genug, Widerstände der anderen Fraktion im Repräsentantenhaus oder der anderen Kongresskammer zu überwinden.
Das Repräsentantenhaus hat wichtige Aufgaben im Gesetzgebungsprozess. Es muss etwa den Haushalt absegnen, der die Regierungsgeschäfte finanziert und dafür sorgt, dass es nicht zu einem "Shutdown" kommt. Wenn der eintritt, müssen Staatsbedienstete zum Teil zwangsbeurlaubt werden oder vorübergehend ohne Bezahlung arbeiten. Auch die Anhebung der Schuldenobergrenze steht bald wieder bevor. Sollte der Kongress nicht zustimmen, droht ein Zahlungsausfall der weltgrößten Volkswirtschaft. Dies hätte eine globale Finanzkrise zur Folge.
Der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, warnt bereits, McCarthys "Zugeständnisse an die Extremisten in seiner Partei" machten es viel wahrscheinlicher, dass es zu einem "Shutdown" oder zu einem Zahlungsausfall der USA kommen könnte, "mit verheerenden Folgen für unser Land". Schumer mahnt, McCarthys "Traumjob" könnte für das amerikanische Volk zum "Albtraum" werden.