Herr Karas, das weltweite Echo auf den Korruptionsfall ist enorm. Wie groß ist der Schaden für das Parlament und die EU? Wird der Skandal Auswirkungen auf die Europawahlen haben?
OTHMAR KARAS: Die Vorwürfe gegen Eva Kaili wiegen schwer und beschädigen das Ansehen und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Europäische Parlament. Korruption ist das tödlichste Gift für unsere Demokratie. Das Europäische Parlament hat sofort Konsequenzen gezogen. In den nächsten Stunden wird Eva Kaili nach Artikel 21 der Geschäftsordnung das Amt der Vizepräsidentin entzogen. Transparenz und volle Aufklärung sind entscheidend, um das Ansehen des EU-Parlaments nicht weiter zu beschädigen. Auch deshalb kooperieren wir als Institution vollumfänglich mit allen Straf- und Ermittlungsbehörden.
Die Ermittlungen stehen erst am Anfang.Rechnen Sie damit, dass noch weitere Abgeordnete oder führende Angehörige der anderen Institutionen involviert sein können? Was passiert mit den Beschuldigten? Haben Sie Kontakt zu Eva Kaili?
Die strafrechtliche Beurteilung obliegt den Behörden. Wichtig ist mir aber, zu betonen, dass die politische Verantwortung mit einer Verurteilung weder endet noch beginnt. Deshalb haben wir als Parlament sofort die angesprochenen Konsequenzen gezogen. Das Parlament geht aber auch weit über den Entzug der Funktion von Frau Kaili hinaus. Es stellt alle Entscheidungen rund um Katar auf den Prüfstand. Das unterstreicht den festen Willen nach umfassender Aufklärung und lückenloser Transparenz.
Bis jetzt sind in den Skandal nur Angehörige der Fraktion der Sozialdemokraten verwickelt.
Können Sie ausschließen, dass auch Abgeordnete der EVP involviert sind?
Nach meinem jetzigen Wissensstand kann ich das ausschließen. Wie bereits betont, kooperiert das Parlament uneingeschränkt mit allen Behörden, um eine rasche und vollständige strafrechtliche wie politische Aufklärung sicherzustellen. Auf politischer Ebene könnte dies zum Beispiel über die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses geschehen.
Hat das Parlament nun für lange Zeit seine Legitimation verwirkt, auf Unrechtmäßigkeiten und Korruption in Mitgliedsstaaten wie Ungarn hinzuweisen?
Die schnelle und konsequente Reaktion aller Fraktionen und Repräsentanten des Europäischen Parlaments zeigt, dass wir mit derselben Entschlossenheit im eigenen Haus arbeiten, wie wir es gegen Rechtsstaatssünder in- und außerhalb der Union machen. Es ist unsere Aufgabe, das auch weiterhin mit größter Sorgfalt zu tun.
Im November hat das Plenum die umstrittene Katar-Resolution angenommen. Nach den nun bekannten Vorwürfen stellt sich die Frage: Ist das Ergebnis denn rechtmäßig zustande gekommen?
Wir dürfen wegen eines massiven Fehlverhaltens nicht ein ganzes Parlament unter Generalverdacht stellen. Die Resolution hatte eine breite Zustimmung. Frau Kaili ist eine von 705 Abgeordneten. Das Europäische Parlament wird alle Entscheidungen genau prüfen. Aus meiner Sicht war die Resolution eine ausgewogene, die sowohl auf die großen Probleme zum Beispiel im Bereich Menschenrechte einging als auch die von Katar bereits gesetzten Schritte erwähnt.
Alle fordern nun Konsequenzen. Schon lange gibt es Zweifel über die Wirksamkeit des "legislative footprint" (Abgeordnete müssen ihre Kontakte mit Lobbyisten angeben), dabei sind dort sogar Kontakte mit Drittländern ausgenommen. Ein Systemmangel?
Die parlamentarische Arbeit verlangt nach Eigenverantwortung und Transparenz. Die Letztverantwortung liegt immer beim Politiker. Die vorhandenen Schutzmechanismen für unsere Demokratie haben in dem Fall aber nicht ausreichend gegriffen, weshalb wir uns immer Gedanken machen müssen, wie wir hier besser werden können. Wenn notwendig, sollten wir auch externe Compliance-Experten zur Evaluierung und Verbesserung heranziehen. Zu ihrem konkreten Beispiel mit Kontakten mit Drittländern gilt festzuhalten, dass selbstverständlich Kontakte mit zum Beispiel einem katarischen Unternehmer angegeben werden müssen. Botschafter und Regierungsvertreter sind von dieser Regel generell ausgenommen – auch innerhalb der Europäischen Union.
Was muss sich im Europäischen Parlament konkret ändern? Wie lange dauert das?
Es mag ernüchternd klingen, aber alle Korruptionsexperten sind sich einig: Wenn sich jemand korrumpieren lassen will, findet er einen Weg. Gerade wenn es um Entscheidungen wie das persönliche Stimmverhalten geht. Wir werden im Europäischen Parlament unsere aktuellen Regelungen prüfen und Verbesserungen vornehmen. Aber wie gesagt: Das politische Selbstverständnis eines jeden Mandatars ist entscheidend und sollte auch vermehrt in den Fokus der Debatte und der Wählerentscheidung gerückt werden.