Straßenbarrikaden, Schusswechsel und Explosionen: Auch in der Nacht zum Sonntag schreckten mehrmals gewaltige Detonationen und Schüsse die Bewohner im überwiegend serbisch besiedelten Norden des Kosovo auf. Für die eskalierenden Spannungen im Nordwestzipfel des seit 2008 unabhängigen Staatenneulings machen sich Kosovo und Serbien gegenseitig verantwortlich.
Pristina wittert "paramilitärische", von Belgrad gesteuerte Sicherheitskräfte hinter der Eskalation der seit Wochen schwelenden Spannungen. Aufgebracht fordert Kosovo-Premier Albin Kurti die sofortige Räumung der von "maskierten Kriminellen" errichteten Straßenbarrikaden im Norden des Landes und wirft Belgrad "orchestrierte Gewalt" und die versuchte "Destabilisierung" des Nachbarstaates vor: !Wir wollen keinen Konflikt, wir wollen Frieden. Aber wir werden auf Aggression mit den Kräften antworten, die wir haben."
"Unser Volk geht auf die Barrikaden"
Ganz anders ist die Lesart in Belgrad, das für die eskalierenden Spannungen die verstärkte Stationierung von Sondereinsatzkräften der Kosovo-Polizei im Norden und erste Verhaftungen von Kosovo-Serben verantwortlich macht. Pristina habe "die Krise provoziert", um die Kosovo-Serben "angreifen, verhaften und malträtieren zu können", poltert Serbiens allgewaltiger Staatschef Aleksander Vučić: "Unser Volk geht auf die Barrikaden, weil es den Terror und die Grausamkeiten nicht mehr länger ertragen kann."
Obwohl Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani die von ihr auf den 18. Dezember angesetzten Neuwahlen zur Ersetzung der aus Protest abgetretenen serbischen Bürgermeister in Nordkosovo nun auf April verschoben hat, ist eine Entspannung nicht in Sicht. Im Gegenteil. Serbien werde bei der Nato die Entsendung von Serbiens Armee und Polizei in den Kosovo beantragen, kündigte Vučić am Wochenende grollend an. Gleichzeitig räumte er ein, dass er sich "keine Illusionen" mache, dass die Nato das Gesuch genehmigen werde. Als "offene Androhung einer militärischen Aggression" kritisierte wiederum seine Amtskollegin Osmani die Belgrader Drohgebärden.
Wenig Wille zur Beruhigung
Ob beim festgefahrenen "Nachbarschaftsdialog" der unwilligen Nachbarn, ob beim von der EU zu Monatsbeginn nur mit Mühe vorläufig beigelegten Streit um die Einführung der Kosovo-Autokennzeichen auch im serbisch besiedelten Norden oder beim Dauerknatsch um die von Pristina bereits 2015 zugesagte, aber nie umgesetzte Schaffung eines Verbands der serbischen Kommunen: Trotz verstärkter Vermittlungsbemühungen der EU mehren sich schon seit Monaten die Spannungen zwischen den einstigen Kriegsgegnern.
Der Wille zur Beruhigung der Gemüter scheint auf beiden Seiten nicht sonderlich ausgeprägt. Als "terroristischen Abschaum" beschimpft Vučić seinen Gegenspieler Kurti. Der wiederum bescheinigt der Führung in Belgrad einen "autoritären, proasiatischen und kriegshetzerischen" Charakter.
Ablenkungsmanöver
Mit dem Zündeln am Kosovo-Fass wolle Vučić von dem verstärkten EU-Druck auf Serbien zur Übernahme der Sanktionen gegen Russland ablenken, vermuten regierungskritische Analysten in Belgrad. Kurti mime den unnachgiebig starken Mann, auch um von der miserablen Lage im eigenen Land abzulenken, so dessen Kritiker in Pristina.
Er denke nicht daran, Kosovo anzuerkennen, versicherte Vučić erneut am Wochenende – und kündigte verstärkte Anstrengungen Belgrads an, die Aufnahme der Ex-Provinz in die UN und die EU zu verhindern. Kurti wiederum wirft Belgrad vor, mit der gezielten Eskalation der Lage den von Brüssel moderierten Kosovo-Dialog der Zuständigkeit der EU entziehen zu wollen: Als Reaktion auf den deutsch-französischen Kompromissvorschlag, der zumindest die faktische Anerkennung Kosovos durch Belgrad vorsieht, wolle Vučić "die Kosovo-Frage" zurück in den UN-Sicherheitsrat verlagern, da Serbien dort auf das Veto von Russland und China bauen könne.
Thomas Roser (Belgrad)