Die britische Premierministerin Liz Truss ringt nach nur wenigen Wochen als Regierungschefin um ihr Amt. Der Londoner Zeitung "Daily Mail" zufolge muss sich die 47-jährige Tory-Politikerin möglicherweise noch in dieser Woche einem Misstrauensvotum stellen. Mehr als 100 Abgeordnete der regierenden konservativen Partei seien bereit, Truss zu stürzen, berichtet das Blatt am Sonntag unter Berufung auf mit der Angelegenheit vertraute Personen.
Die Abgeordneten wollen demnach den Vorsitzenden des Ausschusses der konservativen Partei, Graham Brady, auffordern, Truss mitzuteilen, dass "ihre Zeit abgelaufen ist" oder aber die Parteiregeln ändern, um eine sofortige Vertrauensabstimmung zu ermöglichen. Es werde erwartet, dass sich Graham dem widersetze und argumentieren werde, dass Truss und der neu ernannte Finanzminister Jeremy Hunt eine Chance verdienen, die wirtschaftliche Strategie in der Haushaltsdebatte am 31. Oktober darzulegen, hieß es in dem Bericht weiter.
Kampf ums politische Überleben
Truss kämpft nach nur rund 40 Tagen im Amt um ihr politisches Überleben. Sie ist Nachfolgerin von Boris Johnson, der nach zahlreichen Skandalen seinen Posten als Premierminister räumen musste. Sie hatte sich in der Konservativen Partei mit den Versprechen von Steuersenkungen und einem viel stärkeren Wirtschaftswachstum durchgesetzt. Die schuldenfinanzierten Steuerpläne der Regierung haben allerdings zu Turbulenzen an den Kapitalmärkten geführt
Nach dem Rauswurf ihres Vertrauten und Finanzministers Kwasi Kwarteng hatte die Nachfolgerin von Ex-Premier Boris Johnson ihre Hoffnungen nun in den regierungserfahrenen Jeremy Hunt gelegt. Der neue Schatzkanzler räumte am Samstag direkt ein, dass die Truss-Regierung Fehler gemacht habe.
Er bereitete die Briten zugleich darauf vor, dass "einige schwierige Entscheidungen" in Steuerfragen wie beim Staatshaushalt bevorstünden. Politische Beobachter bewerteten seine Aussagen bereits als Abkehr der als "Trussonomics" bezeichneten Wirtschaftspolitik von Truss.
Die nächste Regierungskrise
Damit findet sich Großbritannien nicht einmal sechs Wochen nach dem Wechsel in der Downing Street in der nächsten Regierungskrise wieder. Damals trat Truss die Nachfolge von Johnson an, der im Zuge des "Partygate"-Skandals untragbar für seine Partei geworden war. Truss hatte sich davor in einer parteiinternen Wahl gegen Rishi Sunak und weitere konservative Spitzenpolitiker durchgesetzt - in erster Linie, weil sie massive Steuererleichterungen versprach.
Diese Steuervorhaben sind jedoch dabei, krachend zu scheitern, weil Pläne zur Gegenfinanzierung fehlen. Die Finanzmärkte reagierten mit heftigen Turbulenzen. Daraufhin legte Truss mehrere Kehrtwenden hin: Erst kassierte sie die Streichung des Spitzensteuersatzes, dann verabschiedete sie sich am Freitag nicht nur von Finanzminister Kwarteng, sondern auch von einer geplanten Erleichterung bei der Unternehmensteuer.
Hunt muss Wirtschaftspolitik neu ausrichten
Nun soll der frühere Außen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt die Kohlen für die angeschlagene Premierministerin aus dem Feuer holen. Das Streben nach Wirtschaftswachstum sei zwar richtig, teilte der neue Schatzkanzler mit. "Aber wir sind zu weit gegangen, zu schnell." Es sei eine große Ehre, neuer Finanzminister zu sein, sagte er am Samstag in seinem ersten Interview in seiner neuen Position bei Sky News. "Aber ich möchte ehrlich mit den Leuten sein: Wir haben einige sehr schwierige Entscheidungen vor uns." Er wolle zeigen, dass man die Steuer- und Ausgabenpläne bezahlen könne. Was das Land nun brauche und der Markt wolle, sei Stabilität.
Dabei deutete er auch mögliche Steueranhebungen an. "Einige Steuern werden nicht so schnell gesenkt, wie die Leute wollen - einige Steuern werden steigen. Es wird also schwierig", sagte Hunt. Dass den Briten eine neue Ära der Sparpolitik blühe, dementierte er jedoch.
Fest steht, dass Hunt die britische Wirtschaftspolitik nun praktisch komplett neu ausrichten muss. Damit könnte er letztlich das gesamte Konstrukt einreißen, das Truss überhaupt den Sieg über Sunak beschert hatte. Der Retter könnte somit zum Totengräber werden - und sich selbst politisch wieder an vorderste Reihe vorspielen. Schon jetzt wird Hunt in London als der mächtigste Politiker der Regierung betrachtet. Truss habe jedoch weiterhin das Sagen, beteuerte er am Sonntag bei der BBC - dass der neue Schatzkanzler das betonen muss, spricht bereits Bände.
Truss ist angezählt
Bei den konservativen Tories wird nun bereits mehr oder weniger laut über den Sturz von Truss nachgedacht. Wie auch der "Observer" am Sonntag berichtete, will sich eine Gruppe hochrangiger Tory-Abgeordneter am Montag treffen, um über die Zukunft der Regierungschefin zu beraten.
Selbst US-Präsident Joe Biden schien in sie einzustimmen. Er sagte am Samstagabend (Ortszeit) bei einem Besuch im US-Bundesstaat Oregon, er sei nicht einverstanden gewesen mit dem Ansatz, in Zeiten wie diesen Steuererleichterungen für Superreiche auf den Weg zu bringen. "Ich war nicht der einzige, der dies für einen Fehler hielt." Es sei aber nicht an ihm, sondern an Großbritannien, darüber zu urteilen.
Sollte Truss aus dem Amt gejagt werden, würde Großbritannien bald den fünften Regierungschef in den vergangenen sechs Jahren erhalten. Die Erwartung ist, dass eine vorgezogene Neuwahl dann unausweichlich wird, denn schon Truss hat kein eigenes Mandat. Das Problem der Konservativen bei einer Neuwahl: In Umfragen führt die oppositionelle Labour-Partei teils mit mehr als 30 Prozentpunkten Vorsprung.
"Groteskes Chaos"
Für Labour ist die erneute Unruhe bei den Tories somit ein gefundenes Fressen. Labour-Chef Keir Starmer bezeichnete die Entlassung von Kwarteng am Samstag als "groteskes Chaos". Die derzeitige Situation sei aus historischer Sicht beispiellos, sagte er auf einem regionalen Parteitag in Barnsley. "Diese Regierung hat unserer Wirtschaft zwölf Jahre lang Schaden zugefügt, und weil das Kamikaze-Budget noch mehr Schaden angerichtet hat, sind wir natürlich besorgt." Was es brauche, sei nicht ein Wechsel an der Spitze der Tories, sondern ein Regierungswechsel. Mit anderen Worten: eine Neuwahl.