Bundeskanzler Karl Nehammer hat am Rand der 77. UNO-Vollversammlung in New York die wegen des Angriffs auf die Ukraine verhängten Sanktionen des Westens und der EU gegen Russland verteidigt. Gleichzeitig rief er aber dazu auf, diese zu "evaluieren und zu schauen, ob sie treffsicher sind". Dienstagvormittag (Ortszeit) nimmt Nehammer gemeinsam mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) an der Eröffnung der Generaldebatte teil.
"Sanktionen sind friedlichster Protest"
Im Gespräch mit österreichischen Medien am UNO-Hauptsitz sagte Nehammer: "Sanktionen dürfen uns nicht mehr schwächen als die, denen sie gelten sollen." Generell hielt der Bundeskanzler fest: "Sanktionen sind die friedlichste Form, um gegen Krieg und Leid zu protestieren und aufzuzeigen, dass es so nicht weiter gehen kann." Der Krieg in der Ukraine sei nun einmal von Russland ausgelöst worden. Außerdem habe Russlands Präsident Wladimir Putin "die Bedingungen verändert, indem er zum ersten Mal in der Geschichte Gas als Kriegswaffe einsetzt." So etwas sei nicht einmal zu Zeiten der Sowjetunion passiert, ergänzte der Bundeskanzler.
Nein zu Gasembargo
Bei den Sanktionen sei ohnehin darauf geachtet worden, dass nicht jene Länder darunter leiden, die an der Verhängung beteiligt waren. "Deswegen hat es mit Österreich zum Beispiel kein Gasembargo gegeben." Nehammer ortete aber bereits gewisse Verschleißerscheinungen in der westlichen und damit auch österreichischen Bevölkerung: "Was man zunächst einmal sieht, ist, dass die Menschen frustriert sind, weil die Sanktionen nicht jetzt schon die Wirkung zeigen, die wir uns erhofft haben, nämlich dass der Krieg aufhört." Da brauche es Geduld. "Wir wissen, dass die Sanktionen schwerwiegende Folgen haben für die russische Wirtschaft."
Brücken bauen
Gleichzeitig müsse zudem versucht werden, "Brücken zu bauen", damit "wieder miteinander gesprochen wird zwischen den Kriegsparteien". Ziel müsse es sein, "dass man eine Möglichkeit eines Waffenstillstands findet." Dafür müssten im konkreten Fall aber sowohl eine Gesprächsbereitschaft der Ukraine als auch der Russischen Föderation vorhanden sein. "Das ist derzeit nicht absehbar, aber man darf nicht aufgeben." Prinzipiell sei die UNO-Vollversammlung mit Spitzenvertretern aus vielen Staaten für solche Avancen ein geeigneter Ort. "Wir sind gerade hier an einem Platz, wo immer gesprochen werden kann, mit dem Aggressor genauso wie mit dem Opfer. Das ist aus meiner Sicht wichtig, um einen Weg zu finden, wie der Krieg aufhören kann."
Zäsur durch russischen Angriff
Schallenberg ortete im Vorfeld des diplomatischen Großereignisses in New York eine "Zäsur" durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Vergangenes Jahr sei noch die Corona-Pandemie das dominierende Thema bei der Vollversammlung der UNO gewesen, erinnerte sich Schallenberg. "Wir haben damals gedacht, dass das schon herausfordernd genug ist. Aber der russische Angriffskrieg hat alles geändert." Ein wesentliches Thema in New York sei es wohl, den "Verbündeten" in aller Welt klar zu machen, dass das zwar ein "Krieg auf europäischem Boden" sei, "aber mitnichten ein europäischer Krieg."
Keine Sanktionen auf Getreide oder Gas
Dennoch würden neben dem Ukraine-Krieg andere Themen wie Klimawandel oder Lebensmittelknappheit nicht zu kurz kommen, gab sich Schallenberg überzeugt. Schließlich seien diese Fragen durchaus miteinander verwoben. Wichtig sei es aber, einen Punkt festzuhalten: "Die Sanktionen der Europäischen Union haben damit genau gar nichts zu tun. Es gibt keine Sanktionen auf Getreide, es gibt keine Sanktionen auf Düngemittel oder auf Gas."
Während seines Aufenthalts in New York wird Schallenberg auch seine Amtskollegen aus Armenien (Ararat Mirzoyan) und Aserbaidschan (Dscheyhun Bayramov) treffen. "Ich habe über ein Dutzend bilateraler Treffen, vor allem mit den Nachbarstaaten Russlands." In den Gesprächen gehe es auch darum herauszufinden, "wie wird diese russische Bedrohung dort wahrgenommen?"
Heftige Zusammenstöße wegen Berg-Karabach
Zuletzt habe es zwischen Armenien und Aserbaidschan wegen des Berg-Karabach-Konflikts "wieder sehr heftige militärische Zusammenstöße gegeben, erinnerte Schallenberg. Da sei es schon wichtig auszuloten, wie ist die Situation vor Ort? Wie sehen es die beiden Streitparteien?" Zudem spiele auch Russland in der Region eine wichtige Rolle und habe dort auch Soldaten stationiert. Es stelle sich daher auch die Frage: "Was für Möglichkeiten gibt es für uns, hier deeskalierend vermittelnd zu wirken?"
Schallenberg wird sich in New York am Mittwoch auch mit seinem Counterpart aus Ruanda, Vincent Biruta, treffen. Dazu kommentierte Nehammer in dem Gespräch mit österreichischen Journalistinnen und Journalisten: "Es ist nützlich und hilfreich, gerade mit Afrika zu verhandeln. Man muss die Fluchtursachen bekämpfen, das heißt, man muss den Menschen vor Ort helfen. Sie sollen sich erst gar nicht auf den Weg machen. Und vor allem: Sie sollen nicht die gefährliche Reise über das Mittelmeer antreten, wo dann so viele auch ertrinken." Es brauche also "Investment in Afrika."
Am Montag angereist
Nehammer und Schallenberg waren am Montag aus Wien nach New York gereist. Am Montagabend (Ortszeit) traf auch Bundespräsident Van der Bellen im "Big Apple" ein. Das Staatsoberhaupt hatte zuvor in London dem Begräbnis von Queen Elizabeth II. beigewohnt.
Nehammer (ÖVP) startete am Montagnachmittag (Ortszeit) mit einer Rede beim "Transformation Education Summit" am UNO-Hauptsitz am Hudson River in die Vollversammlung. Bildung sei die "Grundlage für Frieden und Wohlstand", unterstrich der Kanzler dabei, aber auch für "Klimaschutz oder technologischen Wandel". Er erinnerte auch daran, dass Österreich "kürzlich das 50-jährige Jubiläum der kostenlosen Schulbücher" gefeiert habe. Die Gratis-Schulbuch-Aktion war 1972 von der damaligen SPÖ-Bundesregierung unter Kanzler Bruno Kreisky eingeführt worden.
Treffen mit Kissinger
Am Abend (Ortszeit) war Nehammer beim ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger (99) zu Gast. Schallenberg nahm am Treffen der EU-Außenminister teil. Am Dienstag und den folgenden Tagen sind für Van der Bellen, Nehammer und Schallenberg in New York mehrere bi-und multilaterale Gespräch geplant. Gemeinsam haben sie am Mittwoch einen Termin bei UNO-Generalsekretär António Guterres. Ebenfalls am Mittwoch kommt Van der Bellen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammen. Die Stimmung zwischen Wien und Ankara war längere Zeit frostig gewesen. In den vergangenen Wochen kam es aber zu mehreren Treffen, auch auf Regierungsebene.
Am Sitz der Vereinten Nationen ist ab Dienstag die 77. Generaldebatte der UNO-Vollversammlung im Gang, zu der sich mehr als 140 Staats-und Regierungschefs angesagt haben. Traditionell halten das Staatsoberhaupt von Brasilien (Jair Bolsonaro), der US-Präsident (Joe Biden) und der UNO-Generalsekretär (Guterres) die ersten Reden. Die Vollversammlung ist das Parlament der Vereinten Nationen. Darin hat jedes Mitgliedsland eine Stimme. Die Sitzungsperioden dauern rund ein Jahr. Höhepunkt ist jeden September die Generaldebatte, zu der üblicherweise Polit- und Staatsspitzen aus aller Welt anreisen.