Das Kernkraftwerk Saporischschja scheint zumindest teilweise wieder zu funktionieren. Wie die Betreibergesellschaft am Freitag mitteilte, sind zwei der sechs Reaktoren wieder in Betrieb gegangen.
Alle sechs Reaktoren waren am Donnerstag ausgeschaltet worden, nachdem eine Aschenhalde des benachbarten Wärmekraftwerkes in Brand geraten war. Das Feuer soll mehrere Kurzschlüsse ausgelöst und die letzte Stromlinie unterbrochen haben, die das Kernkraftwerk mit dem Stromnetz verband. Nach Angaben der russisch-kontrollierten Verwaltung im besetzten Teil der Region Saporischschja hatten zuvor ukrainische Streitkräfte das Gelände beschossen, die ukrainische Seite beschuldigt ihrerseits die russischen Truppen.
Größtes AKW Europas erstmals abgeschaltet
Das größte AKW Europas war zum ersten Mal vollständig heruntergefahren worden. Die Russen hatten die Anlage am Ostufer des Dnipros Anfang März erobert, die Reaktoren werden aber weiter von ukrainischen Technikern bedient und sind an das landesweite Energienetz angeschlossen. Schon bei den Kämpfen im März war auf dem Kraftwerksgelände ein Brand ausgebrochen, in den vergangenen Wochen häufte sich Beschuss auch aus schweren Waffen, beide Seiten machten sich gegenseitig verantwortlich. Nach Aussagen eines ukrainischen AKW-Mitarbeiters steckt ein Blindgänger sogar im Dach eines Lagers für atomare Brennstoffreste.
Einer seiner Kollegen sagte der BBC, die Russen hätten Schützenpanzer und Raketenwerfer auf dem Kraftwerksgelände positioniert. Und nach Angaben der russischen Staatsagenturen nahmen kürzlich Nationalgardisten, die die das AKW bewachten, zwei ukrainische Mitarbeiter fest, die der ukrainischen Armee Informationen auch über die Position von Militärtechnik geliefert hätten – ein Beleg dafür, dass das russische Militär die Anlage tatsächlich als Stützpunkt nutzt.
Wie gefährlich wäre ein Zufallstreffer
Es lässt sich darüber streiten, ob die Russen sich dort selbst beschießen, um das dann den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Aber Artilleriesalven gab es im August immer wieder, Saporischschja ist zum ersten Atomkraftwerk geworden, das auf einem Schlachtfeld steht. Und der Moskauer Atomphysiker Andrei Oscharowski schließt gegenüber unserer Zeitung nicht aus, dass schwere Raketen, die von der gegnerischen Luftabwehr getroffen wurden, zufällig auf der Schutzhülle der Reaktoren landen und sie durchschlagen könnten. Aber nach Aussage des ukrainischen Atomingenieurs Oleksandr Kupnyj würde solch ein Zufallstreffer noch keine GAU-Gefahr bedeuten. "Um den Reaktor selbst zu beschädigen, müssen mehrere Präzisionssprengköpfe die gleiche Stelle treffen", sagte er auf Youtube.
Unterbrechung der Stromversorgung als größtes Problem
Aber die Kurzschlüsse am Donnerstag haben gezeigt, dass den Kernreaktoren in Saporischschja noch ganz andere Gefahren drohen. Zwei der sechs Blöcke hatten die Mitarbeiter des AKWs schon vorher komplett heruntergefahren. Aber mindestens zwei arbeiteten bis Donnerstag auf Hochtouren. Auch nachdem man sie abgeschaltet hatte, mussten sie weiter gekühlt werden, um zu verhindern, dass die noch laufenden Kernspaltungsprozesse in ihrem Inneren zu einer Überhitzung und zur Schmelze des Reaktorkerns führten. Die Stromversorgung war unterbrochen, deshalb gingen mehrere in Reserve stehende Dieselgeneratoren in Betrieb, die die Pumpen des Kühlungssystems weiter mit Energie versorgten. "In dieser Situation hätten die Dieselgeneratoren auch beschädigt werden können", sagt Oscharowski. "Oder der Tankwagen mit dem Diesel hätte nicht ankommen können." Laut Oscharowski wäre dann eine Kernschmelze wie in Fukushima 2011 wahrscheinlich gewesen. Dort hätten Flutwellen erst die Stromlinien zerstört, dann die Dieselgeneratoren weggespült.
Vonseiten prorussischer Lokalbeamten hieß es gestern, das Atomkraftwerk liefere wieder normal Strom, auch Richtung Ukraine. Andererseits meldete die Staatsagentur RIA Nowosti, ukrainische Artilleriegeschosse hätten die letzte Stromleitung zerstört, die das Kraftwerk mit den ukrainischen Verbrauchern verbunden hatte. Seit Wochen gehen Gerüchte, Russland wolle den Atomstrom aus Saporischschja künftig komplett selbst nutzen.
Frank Hölthohne (Ukraine)