Elf Jahre nach dem demokratischen Wandel in Tunesien steht das nordafrikanische Land vor einem Rückfall in die Autokratie. Staatspräsident Kais Saied lässt sein Volk an diesem Montag über eine neue Verfassung abstimmen, die ihm diktatorische Vollmachten sichert. Streit in der Opposition und Politikverdrossenheit in der Wählerschaft spielen dem Präsidenten in die Hände. Dass Saied mit seiner neuen Machtfülle die tiefgreifenden Probleme Tunesiens lösen kann, ist unwahrscheinlich. Statt mehr Stabilität könnte die neue Ära mehr Unruhe und Proteste bringen.
Die Volksabstimmung findet auf den Tag genau ein Jahr nach der Entmachtung des Parlaments durch den Präsidenten statt. Saied ließ damals die Volksvertretung schließen und begründete dies mit der Korruption und Unfähigkeit der politischen Klasse. Nach Jahren der politischen Stagnation und der Wirtschaftskrise unterstützten viele der knapp zwölf Millionen Tunesier den Präsidenten.
Jetzt hat Saied, ein 64-jähriger Verfassungsrechtler und politischer Außenseiter, fast im Alleingang ein neues Grundgesetz ausgearbeitet. An Online-Konsultationen beteiligten sich nicht einmal fünf Prozent der Tunesier. Auch große Parteien und Verbände machten nicht mit. Saieds Verfassung ist mit so heißer Nadel genäht, dass der Ende Juni vorgestellte erste Entwurf viele Rechtschreibfehler und Widersprüche enthielt. Eine zweite Vorlage bügelte manche Mängel aus, wurde dem Volk aber erst knapp drei Wochen vor dem Referendum vorgestellt.
Präsident kann nicht mehr abgesetzt werden
Der Text für eine "neue Republik" spricht dem Präsidenten den Großteil der Macht zu, ohne dass er sich der Kontrolle durch andere Institutionen unterziehen muss. Saied kann künftig das Parlament auflösen, die Regierung entlassen, Richter ernennen und im Falle einer nicht näher definierten "unmittelbaren Gefahr" für den Staat die eigene Amtszeit verlängern. Die Verfassung sieht keine Möglichkeit zur Amtsenthebung des Präsidenten vor.
Saieds Entwurf trifft bei den meisten Parteien und großen Teilen der Zivilgesellschaft auf Ablehnung. Am Samstag protestierten mehrere Hundert Menschen in der Hauptstadt Tunis gegen die Pläne des Präsidenten. Mit der neuen Verfassung "schließt sich die Klammer der Demokratie", die sich 2011 mit dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Ali geöffnet habe, sagt die Aktivistin und Unternehmerin Mouna Ben Halima. Als die Tunesier damals Ben Alis Herrschaft abschüttelten, setzten sie die Protestwelle des Arabischen Frühlings in Gang. Nur in Tunesien gelang damals der Übergang zur Demokratie.
Die Tunesier sind erschöpft
Mit der neuen Verfassung schlage das Pendel wieder in Richtung Autokratie aus, sagte Ben Halima bei einer Online-Konferenz des Nahost-Instituts in Washington. Obwohl die Opposition Saieds Verfassung ablehnt, hat sie sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die neue Verfassung hat es nicht gegeben, auch weil viele Tunesier wegen Inflation und Arbeitslosigkeit kaum Zeit dafür haben. "Die Tunesier sind erschöpft", sagte Ben Halima. "Für sie ist Ordnung wichtiger als die Grundrechte."
Trotzdem geht Saied beim Referendum auf Nummer Sicher. Nur ein Teil der 11.000 Wahllokale wird am Montag von unabhängigen Beobachtern kontrolliert werden können. Zudem gibt es keine Vorschriften zur Mindest-Beteiligung: Selbst wenn nur wenige Tunesier zur Abstimmung gehen, kann eine relative Mehrheit von Ja-Stimmen dem Präsidenten den Sieg bringen.
Staatsbankrott droht
Wie immer die Abstimmung ausgeht: Tunesien wird in der Krise bleiben. Weil dringend nötige wirtschaftliche Reformen verschleppt wurden, droht in den kommenden Monaten der Staatsbankrott, wie Anthony Dworkin von der Denkfabrik ECRF in einer Analyse warnt.
Saied hat Reformen versprochen, um den Internationalen Währungsfonds zu neuen Milliardenhilfen zu bewegen. Ab Montag wird er nicht nur reden, sondern handeln müssen – als fast allmächtiger Staatschef ist er dann auch für das Wohl und Wehe der Wirtschaft verantwortlich. Der Präsident wird schmerzhafte Einschnitte im aufgeblähten Behördenapparat durchsetzen müssen, wenn er Erfolg haben will.
Die wirtschafts- und sozialpolitische Misere könnte für Saieds Macht deshalb gefährlicher werden als der Streit um die Verfassung. Ohne grundlegende Wirtschaftsreformen dürften sich viele Tunesier gegen den Präsidenten wenden, sagt ECRF-Experte Dworkin voraus. Saieds "neue Republik" könnte für den Präsidenten ungemütlich werden.
Thomas Seibert (Istanbul)