Über mangelnde Auslastung dürfte sie derzeit nicht klagen können:
Estlands Regierungschefin Kaja Kallas, der Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer nun einen Besuch abstattete, muss großes innenpolitisches Chaos schlichten und ihr Land mit klaren Positionen vor dem langen Atem des russischen Präsidenten Wladimir Putin bewahren. 2010 trat sie der wirtschaftsliberalen Reformpartei bei, ein Jahr später wurde sie erstmals in das Parlament gewählt – und seit 2021 ist Kallas estnische Premierministerin.
Dass im baltischen EU- und Nato-Mitgliedsland Estland das Regierungsbündnis aus der Reformpartei und der linksgerichteten, angeblich russlandfreundlichen Zentrumspartei implodierte, kommentierte die 44-Jährige so: "Estland braucht mehr denn je eine funktionierende Regierung auf Basis gemeinsamer Werte. Die Sicherheitslage in Europa gibt mir als Premierministerin nicht die Möglichkeit, die Kooperation mit der Zentrumspartei fortzusetzen."
Dem Bruch waren Grabenkämpfe über einen Gesetzesentwurf zum Familien- und Kindergeld vorausgegangen. Was die etwaige Dialogfähigkeit des Kriegstreibers im Kreml betrifft, hegt Kallas – wie fast alle – starke Zweifel: "Es ist sinnlos, mit Putin zu reden", sagte die Politikerin, auf einen militärischen Sieg statt auf einen Friedensvertrag drängend. "Ein Diktator versteht nur Stärke", fordert sie das Ende der Telefonate.
Kallas ist neben Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin, Schwedens Regierungschefin Magdalena Andersson sowie der isländischen Premierministerin Katrín Jakobsdóttir lebender Beweis für weibliche Stärke in Europas Spitzenpolitik. Ihre wuchtigen Standpunkte stoßen indes nicht überall auf Zustimmung: Kalas wird auch als Eiserne und Stürmische aus dem Baltikum porträtiert.
Der Ukraine-Krieg wird Europa noch lange in Atem halten – innenpolitisch gilt es für sie, neue Koalitionspartner zu finden, mit denen die Kooperation besser und stabiler verlaufen kann.