Kevin Kühnert machte sich die Analyse nicht einfach. „Gestandene Amtsinhaber werden wiedergewählt“, kommentierte der SPD-Generalsekretär zu Wochenbeginn generös den grandiosen Wahlerfolg von CDU-Regierungschef Daniel Günther in Schleswig-Holstein. Die Betonung lag aber auf „Gestandene“. Denn Kühnert schickte mit Blick auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am Sonntag gleich eine Einschränkung hinterher. Der dortige CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst sei „erst seit einigen Monaten im Amt und nicht sonderlich beliebt“. Nur keinen Kiel-Effekt beschwören für die Union. Dazu ist die Wahl in Nordrhein-Westfalen zu wichtig.
Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland wählt am Sonntag einen neuen Landtag. Von einer kleinen Bundestagswahl sprechen Meinungsforscher. Nicht nur deshalb sind alle nervös. Die CDU von Ministerpräsident Wüst und die SPD von Herausforderer Thomas Kutschaty liegen gleich auf. Spannender aber noch ist die offene Koalitionsfrage. Die Union regiert mit der FDP. Die hatte die Wahl vor fünf Jahren mit Spitzenkandidat Christian Lindner noch zu einem kleinen Volksentscheid für die Rückkehr der Liberalen in den Bundestag stilisiert. Mit Erfolg. Nun aber bröckeln die Zustimmungswerte. Die Grünen hingegen legen zu. Und so entscheidet die Koalitionsfrage auch über mögliche Bündniskonstellationen auf Bundesebene. Die Abstimmung am Sonntag wird damit zur kleinen Richtungswahl - auch für die Führungsfiguren im Bund: Olaf Scholz und Friedrich Merz.
Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs
„Die landespolitischen Themen stehen im Vordergrund. Natürlich spielt aber auch der Krieg in der Ukraine eine wichtige Rolle“, sagt Henrik Wüst, 47, und setzt damit den Ton. Die Landtagswahl findet im Schatten des russischen Einmarschs in der Ukraine statt. Und damit auch unter dem Eindruck der medialen Zurückhaltung von Olaf Scholz. Wüst thematisiert das nicht direkt und sagt nur: „Die SPD hat ein Russland-Problem.“ Das war‘s an Weltinnenpolitik.
Die spielt im Industrieland Nordrhein-Westfalen zwangsläufig eine Rolle. Die Energieriesen (und Nordstream-2-Investoren) Uniper und RWE haben hier ihren Sitz. Und die Kohle ist auch ohne die Ukraine wichtig. Der letzte Schacht machte zwar längst dicht und 2030 soll an Rhein und Ruhr auch die Verstromung von Kohle enden. Eine gewisse „Flexibilität“ bei den Laufzeiten für die Kohle-Meiler mahnte Wüst nun mit Blick auf den Krieg im Osten an. Wichtig in einem Land, indem Kohle immer noch eine mentale Rolle spielt und Fußballer - wie auf Schalke - in einer Art Grubenschacht ins Stadion einlaufen.
Zwischen Krieg und Pandemie
Wüst, 47, löste erst im vergangenen Oktober den glücklosen Armin Laschet als Ministerpräsident ab. Zuvor amtierte der Jurist als dessen Verkehrsminister. Der Neue gibt sich basisnah, bedeutsam im Malocherland Ruhrgebiet. Wüst stammt aus bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen. Der Vater war Textilhändler, die Mutter arbeitete als Metzgerin im eigenen Familienbetrieb. Sie starb als Wüst 19 war. Nicht der einzige Rückschlag in Wüsts Leben. 2010 musste der aufstrebende Politiker als Generalsekretär der Landes-CDU gehen. Wüst hatte Termine mit CDU-Regierungschef Jürgen Rüttgers gegen Spenden für die Parteikasse vermittelt. Das war‘s erstmal.
Laschet holte Wüst vor fünf Jahren zurück in sein Kabinett. Nun muss sich Wüst nach einem guten halben Jahr als Regierungschef dem Votum der Wähler stellen. Die sprechen weniger über Russlands Krieg als über Corona und den Wackelkurs Laschats. Bei vielen Eltern hat sich enormer Frust über Homeschooling und Schulschließungen während der Pandemie angestaut. Der Unmut trifft zwar vor allem Bildungsministerin Yvonne Gebauer von der FDP. Aber damit eben auch Wüsts angestammten Koalitionspartner.
„Bildung muss Chefsache werden“, sagt denn auch Thomas Kutschaty, 53, der Spitzenkandidat der SPD. Er setzt voll auf Bildung und verspricht jedem Kind ein digitales Endgerät für die Schule. Wüst, Sohn eines Eisenbahners, ist in einer Sozialsiedlung im Ruhrgebiet großgeworden, Matura als erster in der Familie, Jus-Studium. Eine klassische SPD-Aufsteigergeschichte. Kutschaty lag lange aussichtslos zurück im Rennen um die Staatskanzlei. Dann kam Olaf Scholz und die Bundestagswahl. Und der langsame Aufstieg Kutschatys in den Umfragen.
Neue bündnispolitische Optionen
Nun liegen Union und SPD in den Umfragen gleichauf - mit leichter Tendenz zur Union. Behält Wüst die Macht, stabilisiert dies auch Parteichef Friedrich Merz. Für die SPD geht‘s im einstigen Stammland auch darum, den Aufschwung aus der Bundestagswahl zu stabilisieren.
Offen ist die Koalitionsfrage. Auch mit Blick auf den Bund. Für Schwarz-Gelb wird‘s in Düsseldorf kaum reichen. Das zwingt die Union aus alten Mustern auszubrechen. Im Westen was Neues? Heftig umwirbt Wüst die Grünen. Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen und Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein - der Union eröffnen sich plötzlich neue bündnispolitische Optionen. Auch im Bund. Und der SPD drohen die Grünen als angestammter Partner abhanden zu kommen. Darin liegt die symbolische Bedeutung der Wahl.
Peter Riesbeck (Berlin)