Nach der Wahl zum Regionalparlament in Nordirland wächst die Sorge vor einer erneuten Eskalation im Streit um den Brexit-Sonderstatus der ehemaligen Unruheprovinz. Erwartet wurde, dass die katholisch-republikanische Partei Sinn Féin, die sich für eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland einsetzt, erstmals als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen wird. Nach Auszählung erster Ergebnisse scheint sich dies zu bewahrheiten.
Sinn Féin erstmals stärkste Kraft?
"Wir sind jetzt davon überzeugt, dass Sinn Féin ganz oben auf der Rangliste stehen wird", sagte der BBC-Wahlexperte und Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow am Freitagnachmittag im britischen Fernsehen. Ob die Partei auch die meisten Sitze im Regionalparlament bekommt und damit Anspruch auf das Amt der Regierungschefin hat, war aber zunächst noch unklar.
Die Auszählung nach der Wahl vom Donnerstag dauerte am Freitagnachmittag (Ortszeit) noch an und könnte sich bis in den Samstag hineinziehen. Sollte Sinn Féin tatsächlich stärkste Kraft in der Northern Ireland Assembly werden, wäre das ein Wendepunkt in der Geschichte des gut 100 Jahre alten Landesteils, der zum Vereinigten Königreich gehört. Die Partei galt einst als politischer Arm der militanten Organisation IRA, die gewaltsam für eine Vereinigung Nordirland mit der Republik Irland kämpfte.
Ein Wahlsieg wäre ein historisches Ereignis. Sinn Féin könnte damit erstmals das Recht erhalten, die Regierungschefin (First Minister) in der Einheitsregierung der zu Großbritannien gehörenden Region zu stellen. Der Posten ist zwar faktisch dem des Stellvertreters gleichgestellt, aber die symbolische Wirkung wäre kaum zu unterschätzen. Bisher fiel das stets Parteien zu, die sich für die Beibehaltung der Union mit Großbritannien aussprachen.
Ob es zu einer erfolgreichen Regierungsbildung kommt, hängt aber von der Kooperation der protestantisch-unionistischen DUP ab. Dem als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensschluss aus dem Jahr 1998 zufolge müssen die stärksten Parteien aus beiden konfessionellen Lagern eine Einheitsregierung bilden. Die DUP signalisierte aber bereits, dass sie als Voraussetzung dafür von der Regierung in London eine erneute Konfrontation mit Brüssel zum sogenannten Nordirland-Protokoll erwartet.
Der britische DUP-Abgeordnete Sammy Wilson forderte von der Regierung in London, einen Gesetzgebungsprozess in die Wege zu leiten, der dann einen Bruch des Nordirland-Protokolls ermöglicht. "Wir haben es sehr klargemacht, dass die Assembly nicht funktionieren kann, wenn das Gift des Protokolls noch immer da ist", sagte Wilson der BBC am Freitag in der Früh.
Aus London waren zuvor widersprüchliche Botschaften gekommen. Nordirland-Minister Brandon Lewis war kurz vor der Wahl Spekulationen entgegengetreten, ein entsprechendes Gesetz könne bei der traditionell von der britischen Queen Elizabeth II. verlesenen Regierungserklärung am kommenden Dienstag vorgelegt werden.
Der britische Premierminister Boris Johnson behielt sich jedoch bisher die Option ausdrücklich vor, die im sogenannten Nordirland-Protokoll festgelegten Vereinbarungen per Notfallklausel zu kippen. Doch das dürfte eine heftige Reaktion aus Brüssel hervorrufen. Noch vor einigen Monaten galt selbst ein Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien nicht als ausgeschlossen. Ob es dazu angesichts des Kriegs in der Ukraine kommen dürfte, scheint inzwischen fraglich. Umso mehr dürfte ein solcher Schritt Londons, der die Einheit des Westens infrage stellt, in Brüssel für Verstimmungen sorgen.
Spätestens für das Jahr 2024 ist eine Abstimmung im nordirischen Regionalparlament über die Beibehaltung des Nordirland-Protokolls vorgesehen, doch alles deutet darauf hin, dass die DUP dabei von den anderen Parteien überstimmt wird.
Irland wieder vereinigt?
Weniger im Vordergrund, aber umso wirkmächtiger ist auch die Frage über eine Vereinigung der beiden Teile Irlands. Die linksnationalistische Sinn Féin hatte das Thema im Wahlkampf deutlich hintangestellt und sich auf soziale Themen wie die steigenden Lebenshaltungskosten, Gesundheit und die Wohnungsnot konzentriert. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei mittelfristig auf ein Referendum über die irische Einheit hinarbeitet.
Dass es zeitnah dazu kommt, gilt aber eher als unwahrscheinlich. Der Generalsekretär der regierenden, britischen Konservativen Johnsons, Oliver Dowden, bestätigte am Freitag, dass London einer solchen Volksabstimmung nicht im Wege stehen würde. Voraussetzung sei aber, dass sich eine andauernde Unterstützung der Nordiren für die Vereinigung in Meinungsumfragen abzeichne. Bisher sprechen sich dafür aber gerade einmal etwa 30 Prozent der nordirischen Wähler aus.