Ungarn muss sich wegen möglicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit als erstes Land einem Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln stellen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte am Dienstag im Straßburger Europaparlament an, dass ihre Behörde den ersten Schritt des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus unternehmen werde. Darüber habe die EU-Kommission die ungarischen Behörden am Dienstag informiert.

Der Schritt war bereits zuvor von EU-Budgetkommissar Johannes Hahn angekündigt worden. Hahn sagte zur "Tiroler Tageszeitung", die EU-Kommission werde bei Ungarn tätig werden und den Mechanismus in Gang setzen – wegen des Verdachts der Korruption und Problemen mit öffentlichen Auftragsvergaben. Dies könnte zu einer Kürzung von EU-Geldern für Ungarn führen.

Im Februar hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Klagen von Ungarn und Polen gegen den Rechtsstaatsmechanismus zurückgewiesen. Dies machte den Weg frei für die EU-Kommission, den Rechtsstaatsmechanismus einzuleiten, der letztlich die Kürzung von EU-Förderungen bedeuten könnte.

EuGH-Urteil

Bei Polen sieht Hahn nach Angaben der Zeitung momentan keine Anwendungsmöglichkeit, weil es sich dort um Probleme innerhalb des Justizsystems handle. Hahn legte auch Wert auf Trennung zwischen der Solidarität Polens mit ukrainischen Flüchtlingen und dem Rechtsstaatskonflikt. "Die Leistung insbesondere Polens bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ist ohne Abstriche anzuerkennen, aber das kann nicht heißen, dass es rechtsstaatlich einen Freibrief erhält."

Polen erhält nicht die volle Höhe der ihm zugestandenen Mittel aus dem EU-Haushalt, weil es Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht umgesetzt hat. Konkret hätte Polen laut EuGH-Urteil einen Braunkohleabbau an der Grenze zu Tschechien schließen müssen, tat es aber nicht. Die fällig gewordenen Strafen werden von den polnischen EU-Mitteln abgezogen. Zwar habe sich Warschau inzwischen mit Prag geeinigt, die bis dahin angefallenen Strafen müssten dennoch beglichen werden, so Hahn.

Corona-Wiederaufbaufonds blockiert

Blockiert sind von der EU-Kommission auch die Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds "Next Generation EU" für Polen und Ungarn – ebenfalls wegen Zweifeln an der rechtsstaatlichen Verwendung.

Österreichische EU-Abgeordnete forderten am Dienstag ein entschlossenes Vorgehen gegen Ungarn im Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit. Die Verzögerungen im Artikel-7-Rechtsstaatsverfahren und beim Rechtsstaatsmechanismus sei skandalös, sagte die Neos-Europaabgeordnete Claudia Gamon, die der EU eine zu beschwichtigende Vorgehensweise vorwarf. Der Ukraine-Krieg habe zudem offenbart, dass der ungarische Premierminister Viktor Orbàn "fast ein Vasall Putins in Europa" sei.

Keinesfalls dürfe die Aufnahme von Flüchtlingen dazu verwendet werden, bei der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr so genau hinzusehen, warnte die Grüne-Delegationsleiterin Monika Vana. Nach dem Wahlsieg Orbàns sei ein weiterer Missbrauch von EU-Geldern in Ungarn zu befürchten, sagte die SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath. Die EU-Kommission habe "viel zu lange zugeschaut" und sei "definitiv mit schuld an der Situation".

Orbàns nationalkonservative Fidesz-Partei hatte am Sonntag die Parlamentswahlen mit überraschend großem Vorsprung gewonnen. Orbàn steht damit vor seiner vierten Amtszeit. Die EU liegt seit Jahren in vielen Fragen mit Orbàn über kreuz. So hat sie im Streit über Demokratie-Standards bereits Gelder für Ungarn eingefroren.